Heinrich August Winkler: „Geschichte des Westens – Die Zeit der Gegenwart“

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Eine historische Bestandsaufnahme des letzten Vierteljahrhunderts.

Heinrich August Winklers Trilogie „Die Geschichte des Westens“ hat bei der Historikerzunft nahezu „Kultstatus“ erreicht, da er in den drei Bänden die gesamte Entwicklung des „Abendlandes“ mit seinen Ursprüngen in der Antike detailliert nachbildet. Nun hat er diesem Werk einen vierten und letzten Band hinzugefügt, der im Jahre 1989 einsetzt und Anfang 2015 endet. Dichter kann man in einem solchen Band –  angesichts der erforderlichen Zeit für inhaltliche und formale Endredaktion – wohl kaum am Puls der Zeit sein.

1601_Geschichte_des_WestensWinkler hat das Buch in drei große Blöcke unterteilt und diese streng chronologisch organisiert. Der erste beginnt im Jahr 1991 mit dem Triumph des westlichen Politik- und Gesellschaftsmodells über den „real existierenden“ Sozialismus und endet mit der Tragödie von „9/11“. Die Alliteration von Triumph und Tragödie schlägt sich auch im Titel nieder. Der zweite Teil behandelt die Zeit von 2001 bis 2008, wobei neben den „amerikanischen“ Kriegen in Afghanistan und dem Irak vor allem die Finanzkrise im Mittelpunkt steht. Im letzten Teil schließlich stehen neben der europäischen Krise – Griechenland, Irland und Portugal vorneweg – vor allem der aggressive Wiederaufstieg Russlands und die Expansionsbestrebungen Chinas im Vordergrund. Einen weiteren Schwerpunkt bildet natürlich der islamistische Terror und die damit unmittelbar zusammenhängende Flüchtlingswelle. Letztere konnte Winkler jedoch nur noch anreißen, da das Buch bei dem großen Anschwellen des Flüchtlingsstroms bereits veröffentlicht war.

Winklers Buch trägt zwar den „Westen“ im Titel, beschäftigt sich jedoch eingehend mit den Schwellenländern und neuen Machtblöcken, da eine konsistente Darstellung westlicher Politik ohne diese Länder – vor allem China und Russland – gar nicht möglich ist. Die Mehrdimensionalität der Aufgabenstellung – Zeithoriziont, Geograpie, (geo)Politik und Gesellschaft – löst er durch eine Serialisierung, in dem er die Haupstruktur der Zeit weiter nach diesen Aspekten organisiert. In jedem Kapitel geht er auf die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Einflüsse und Akteure ein und versucht damit, ein umfassendes Bild der letzten fünfundzwanzig Jahre zu zeichnen. Das gelingt ihm durchweg dank akribischer Genauigkeit und einer sich jeglicher Parteinahme entziehenden Sachlichkeit sehr gut. Gerade letztere wird manchem ideologisch oder gar parteipolitisch „vorgespanntem“ Leser vielleicht negativ aufstoßen, da Winkler selbst zum Irakkrieg nur die Fakten und die bekannten Stellungnahmen aufführt. Doch nur so kann man aktuelle Zeitgeschichte referieren, will man nicht Gefahr laufen, populistischen Strömungen oder gar Verschwörungstheorien aufzusitzen.

Historische Abhandlungen über ältere Epochen haben den Vorteil, dass sich im Laufe der Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte neue Fakten und Erkenntnisse herausgeschält haben, die es erlauben, einen völlig neuen Blick auf die betreffende Epoche zu werfen. Ein Beispiel hierfür sind Christopher Clarks „Schlafwandler“ über die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Hier konnte der Autor zum ersten Mal auch die lange gesperrten oder nicht verfügbaren Archive der französischen und russischen Regierung auswerten sowie private Aufzeichnungen der politischen Akteure, die ebenfalls zu deren Lebzeiten und teilweise auch noch danach – Entscheidungen der Erben – nicht verfügbar waren. Über diese Möglichkeiten verfügte Winkler jedoch nicht, da Regierungsarchive – selbst im liberal-demokratischen Westen! – normalerweise dreißig Jahre oder gar länger gesperrt sind, von privaten Aufzeichnungen der meist noch lebenden Akteure ganz zu schweigen. Daher konnte Winkler sein Material nur aus den öffentlich verfügbaren Quellen zusammenfügen und interpretieren. Für den politisch und gesellschaftlich interessierten Leser liest sich dieses Buch daher wie eine Auffrischung der eigenen Erinnerungen, ohne dass es überraschende Erkenntnisse zu Tage bringen würde. Alle Deutungen über das Faktische und Dokumentarische hinaus wären reine Spekulation, die Winkler offensichtlich eines seriösen Historikers nicht für würdig hält. Ideologen und Verschwörungstheoretiker haben also auf dem „zeitnahen“ Geschichtsfeld einen taktischen Vorteil, indem sie wesentlich mehr Aufsehen erregen und irrationale Strömungen aufnehmen können.

Neben diesen rein faktischen Gesichtspunkten spricht noch ein weiteres Argument gegen einen erklärenden oder gar wertenden Ansatz. Wer sich nur auf dem dünnen Eis der bekannten Tatsachen und Dokumente bewegen kann, läuft bei einer darüber hinausgehenden „Deutung“ Gefahr, nach absehbarer Zeit durch neue faktische Erkenntnisse widerlegt oder gar als ideologischer „Spinner“ abgetan zu werden. Also muss sich der seriöse Gegenwartshistoriker eng an die ihm bekannten Fakten halten, wobei er unter Umständen mit Behauptungen konfrontiert wird, die den Status des Faktischen für sich in Anspruch nehmen, ohne unmittelbar widerlegt werden zu können. Triviale Beispiele hierfür sind die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, die sich glücklicherweise bald als bewusste Erfindung – besser:Lüge – entpuppten, oder Assads (und russische) Behauptungen, nur islamistische Terroristen zu bekämpfen. Auch das Dauerringen zwischen Griechenland und der EU ist durch so viele Behauptungen und verdrehte Fakten überdeckt, dass sich „der wahre“ Ablauf und die Strategien dahinter nur schwer entschlüsseln lassen. Aus diesem Grunde war Winkler gut beraten, sich hier nur auf gesicherte Fakten zu stützen und Widersprüche zwischen den Akteuren als solche kenntlich zu machen.

Mit dieser distanzierten, nie parteilichen oder gar polemischen Methode gelingt es Winkler, das breite Panorama der Ereignisse, ihrer Akteure und der jeweiligen Fakten und Behauptungen aufzufächern und die Bewertung damit dem Leser zu überlassen. In dreißig oder fünfzig Jahren kommen spätere Historiker vielleicht zu ganz anderen, verblüffenden oder verstörenden Erkenntnissen – vielleicht aber auch nicht.

Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 611 Seiten sowie einen Anhang von gut 70 Seiten und kostet 29,95 Euro.

Frank Raudszus

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