Herfried Münkler: „Kriegssplitter“

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Eine umfassende Analyse der weltweiter Konflikte der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart.

Historische Analysen werden mit zunehmender Annäherung an die Gegenwart immer fragiler. Kann man sich bei der Betrachtung lange zurückliegender Ereignisse auf umfangreiche, meist konsistente Dokumentation sowie auf die Abgeschlossenheit längerer Entwicklungsprozesse verlassen, so bewegt man sich bei der Geschichte der Gegenwart in stark volatiler Umgebung. Gewisse Prozesse sind noch im Entstehen begriffen und überschneiden sich mit gegenläufigen Prozessen, und bestimmte Tendenzen sind nur in Ansätzen erkennbar und können sich schnell wieder verflüchtigen.

1603_kriegsspilitterHerfried Münkler, der mit seinem Buch „Der große Krieg“ über den Ersten Weltkrieg im letzten Jahr Aufsehen erregte, ist sich dieser Tatsache wohl bewusst und holt in dem vorliegenden Buch deswegen weit in die Vergangenheit aus, um die großen, in die Gegenwart führenden historischen Linien herauszuarbeiten. Da sein Thema die Entwicklung kriegerischer Auseinandersetzungen  in all ihren Ausprägungen ist, liegt es nahe, zum Ersten Weltkrieg als der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ zurückzugehen und von daher die grundlegenden Strukturen und Ursachen zu entwickeln.

Münkler sieht den Ersten Weltkrieg als weltpolitische Zäsur, wobei er offen lässt, ob diese Zäsur 1914 – mit dem Beginn – oder 1918 – mit dem Ende des Krieges anzusetzen ist. Ähnlich strittig ist die Frage, ob die Epoche des 19. Jahrhunderts bereits mit der französischen Revolution oder erst mit dem Wiener Kongress 1815 begann. Man spricht bei dieser Epochendefinition auch vom „kurzen“ oder „langen“ 19. Jahrhundert. Unbestritten ist jedoch für Münkler die Tatsache der weltpolitischen Zäsur durch den Ersten Weltkrieg.

Einen wesentlichen Bruch verortet Münkler dabei in der grundsätzlichen Einstellung zum Krieg. Hatten 1914 noch große Teile der Bevölkerung bis hin zu den führenden Intellektuellen den Krieg als Befreiung aus der Lethargie von „Décadence“ und „Krämertum“ sowie als hohen jeweiligen nationalen Wert gefeiert, so war diese Euphorie 1918 in eine vollständige Desillusionierung umgeschlagen. Von dem freiwilligen „mythischen Opfer“ der Soldaten zum Wohle der – deutschen, französischen, russischen – Nation war nur noch ein sinnloses Abschlachten übrig geblieben.  Vor dem Krieg hatte man rückhaltlose Hingabe des Individuums für die Größe der Nation eingefordert und eingebracht, nach dem Krieg war aus dem heiligen „sacrificium“ ein nur noch bedauernswertes „victima“ geworden. Trotz des Zweiten Weltkrieges kann man sagen, dass der Erste Weltkrieg zu einem Umdenken geführt hat. Hier zitiert Münkler auch Adam Toozes „Sintflut“ über die Zwischenkriegszeit.

Im Ersten Weltkrieg sieht Münkler auch einen Kampf des (deutschen) Bürgertums, das sich durch die aktive Teilnahme einen deutlichen Bedeutungszuwachs gegenüber der Aristokratie und den aufkommenden unteren Schichten versprach. Doch nach dem Krieg hatte das Bürgertum nicht nur sein Vermögen – in Gestalt der Kriegsanleihen – sondern auch seine staatsbürgerliche Reputation verloren und musste das Feld der politischen Extremen mit den bekannten Folgen überlassen. Den Zweiten Weltkrieg sieht Münkler dagegen als Kampf um die Weltordnung, weil hier nicht mehr einzelne Nationalstaaten gegeneinander um territoriale Macht und politischen Einfluss kämpften, sondern der demokratische Westen gegen die faschistisch-chauvinistischen Mächte Deutschland und Japan die Weltordnung erhalten wollte. Die Einbindung der – totalitären – Sowjetunion passt insofern in Münklers Konzept, als sie Opfer des grundlosen Überfalls durch Hitler war.

Aus diesen Überlegungen entwickelt Münkler die Theorie der „heroischen“ und der „postheroischen“ Gesellschaft. Erstere ehrt das Opfer des (individuellen) Helden  für die Gemeinschaft, fordert aber von ihm als Gegenleistung die Einhaltung eines Ehrenkodex im Kampf. Das lässt sich einerseits an den Helden des Trojanischen Krieges und dem mittelalterlichen Ritterideal nachvollziehen, reicht aber andererseits bis zu den „heldenhaften“ Jagdpiloten des Ersten Weltkrieges. Die heroische Gesellschaft ist leidensfähig bis an die existenzielle Grenze und achtet nicht der ökonomischen Folgen. Die Idee der Vorherrschaft über andere Völker dominiert alle anderen Aspekte. Die postheroische Gesellschaft dagegen, die sich in Europa nach den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gebildet hat, lehnt alle irrationalen, speziell nationalen Opfergesten ab und stellt die ökonomischen und sozialen Folgen eines Krieges in den Mittelpunkt. Frieden und Wohlstand sind wichtiger als Herrschaft und Askese. Der inhärente Nachteil  der postheroischen Gesellschaft gegenüber der heroischen besteht für Münkler darin, dass  sie sensibler auf  die finanziellen und humanen Schäden eines Krieges reagiert und daher militärisch über weniger Freiheitsgrade verfügt als ihr heroisches Pendant.

Auf die heutige Situation bezogen, repräsentieren die westlichen Demokratien postheroische Gesellschaften, während die islamischen Staaten – speziell der „Islamische Staat“ – noch in der heroischen Phase stecken. Über Russland äußert sich Münkler in diesem Zusammenhang nicht explizit, doch lässt sich aus seinen Ausführungen folgern, dass er den Russen eine gewisse – atavistische – heroische Nostalgie unterstellt, die wie ein Kater nach dem Erwachen aus dem Weltmachttraum der Sowjetunion den Kopf besetzt.

Die Kriegführung postheroischer Gesellschaften hat sich daher grundlegend geändert. Da lange Kriege mit hohen Verlusten an Menschen und Material der Bevölkerung nicht mehr zu vermitteln sind, spielen die Geschwindigkeit und damit der schnelle Sieg eine zentrale Rolle. Man sieht dies im Falle der USA deutlich an dem Unterschied zwischen dem Vietnamkrieg mit einer Dekade Dauer und den kurzen Kriegen gegen den Irak und Afghanistan. Da jedoch die technologisch und damit militärisch unterlegenen Gegner bei dieser Art Krieg keine Chance haben, setzen sie auf einen zermürbenden Kleinkrieg. Das einzige, was sie entgegenzusetzen haben, ist die Zeit, da sie um die zeitliche Sensibilität der postheroischen Gesellschaften bei kriegerischen Auseinandersetzungen wissen. Außerdem weichen sie in „entterritorialisierte“ Netzwerke wie Al Kaida aus oder vermischen sich – wie der IS – mit der Zivilgesellschaft. Die zwischen den Nationalstaaten mühsam ausgehandelten Regeln der Kriegführung missachten sie bewusst und nehmen auch die – eigene – Zivilbevölkerung als Geisel. Der postheroische Territorialstaat hat dagegen kein Mittel, da er bei jeder militärischen Aktion gegen diese Terrornetzwerke zwangsläufig zivile Opfer in Kauf nimmt. Diese als „Kollateralschaden“ zu marginalisieren, bringt schnell den Ruf des Zynikers ein, hinter dem die eigentliche Brutalität der Terroristen fast verschwindet.

Münkler leitet aus dieser Situation die Antwort der postheroischen Gesellschaften – vornehmlich der USA – ab, den Terrorismus mit drohnenbasierten Polizeiaktionen zu bekämpfen. Er sieht darin keine spezielle Technologie ohne politischen oder gar historischen Hintergrund, sondern einen Strategiewechsel, bei der ein Tausch von Raum gegen Zeit erfolgt. Mit Drohnen greift die Militärmacht nicht mehr breitflächig bestimmte Territorien an, sondern gezielt einzelne Personen, die vorher – teilweise ebenfalls mit Drohnen – beliebig lange ausgeforscht werden. Damit nimmt die postheroische Macht den (heroischen) Terrornetzwerken den Vorteil des zeitverzögerten Kampfes und setzt sie mit den selben Mitteln unter Dauerdruck.

Aus der gegebenen Situation des Verschwindens klassischer Krieg zwischen nationalen Territorialstaaten zugunsten globaler, „fluider“ kriegsähnlicher Aktionen entwickelt Münkler zum Abschluss seines Buches eine Theorie des Raumes. Aktive Geopolitik gehörte und gehört auch heute zu jedem staatlichen Gebilde, das einen gewissen Einfluss auf die Weltordnung nehmen oder diese gar bestimmen will. Heute trifft das vor allem auf die USA zu, China strebt dorthin, und Russland trauert den verlorenen Möglichkeiten nach. Aktive Geopolitik hat für Münkler nichts mit dem klassischen Imperialismus zu tun sondern eher mit einem Ordnung stiftenden Gestaltungswillen, der natürlich auch eigene Interessen nicht hintanstellt. Europa glänzt für Münkler in geopolitischer Abstinenz, was sich in der Betonung des Nationalstaates und der Kritik an der Globalisierung niederschlägt, und läuft damit Gefahr, bei der Neugestaltung der Weltordnung nur als Zuschauer zu fungieren. In Zeiten der – nicht zuletzt durch das Internet forcierten – Globalisierung verlieren Nationalstaaten laut Münkler angesichts international agierender Unternehmen und Organisationen zunehmend an Bedeutung. In der globalisierten Welt geht es nicht mehr darum, Territorien und ihre Grenzen zu kontrollieren, sondern den „virtuellen“ Raum. Diesen definiert Münkler als Summe aller weltweiten Datenströme – Finanztransaktionen, Internet- und Mobilkommunikation. Eine Kontroll- und Gestaltungsmacht kann nur der Akteur entfalten, der diese Ströme überwachen kann. Insofern entspringen die Aktivitäten der NSA nur zum Teil einer bisweilen paranoiden Angst vor Terroristen. Die wesentliche Motivation der USA liegt gerade in der Beherrschung dieser Datenströme. Dass sich daraus auch Profile terroristischer Netzwerke gewinnen lassen, ist sozusagen ein „Kollateralnutzen“, den man gerne mitnimmt. Betrachtet man Münklers Ausführungen über diese Kontrolle des virtuellen Raums näher, so wird klar, dass die USA tatsächlich das strategische Ziel verfolgen, im Rennen um die Raumkontrolle Sieger vor den Chinesen und auch den Terrornetzwerken zu sein. Die Europäer spielen dabei keine bedeutende Rolle, und die USA sind im Stillen vielleicht sogar froh, dass Europa in biedermeierlicher Nationalstaatnostalgie verharrt und geopolitische Aktivitäten im Sinne eines europäischen Staatswesens ablehnt.

Zum Ende hin schließt Münkler noch einmal den Kreis, indem er die heutige Situation mit der von 1914 vergleicht. Die Ukraine-Krise – Ausfluss des russischen „neo-imperialen Traumes“ – sieht er als ähnlich gelagert wie die Serbien-Krise 1914, da heute wie damals die Interessen verschiedener Mächte – Russland und EU bzw. NATO – miteinander kollidieren. Er bescheinigt den westlichen Staaten, in dieser Krise bisher klüger agiert zu haben als die europäischen Mächte in der Julikrise 1914, wobei er explizit Christopher Clarkes „Schlafwandler“ zitiert. Doch die Gefahr ist für Münkler noch nicht ausgestanden, und der destabilisierte Nahe und Mittlere Osten, den die Europäer bisher eher abwehrend als agierend behandelt haben, erfordert in seinen Augen in nächster Zeit wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Aktivitäten, um eine wirklich existenzielle Krise für Europa und den demokratischen Westen zu verhindern.

Münklers Buch bietet dem Leser nicht nur einen umfassenden und konsistenten Überblick über die Konfliktlinien der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart, der Autor entwickelt in ihm auch weit reichende und originelle Ideen über Hintergründe, Motivationen und Strategien der „global player“, um hier einmal diesen neudeutschen Begriff ins Spiel zu bringen. Für jeden historisch Interessierten, der die Beschäftigung mit dem (Un-)Wesen des Krieges nicht aus einem puristischen Pazifismus heraus grundsätzlich ablehnt, bietet dieses Buch eine Fülle von Erkenntnissen und Analysen, die eine neue Perspektive auf das Thema eröffnen.

Das Buch „Kriegssplitter“ ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst – einschließlich 50 Seiten Anmerkungen und Literaturverzeichnis – 396 Seiten und kostet 24,95 Euro.

Frank Raudszus

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