Margriet de Moor: „Schlaflose Nacht“

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Die Ich-Erzählerin dieses Romans leidet unter Schlaflosigkeit und verlässt das gemeinsame Bett mitten in der Nacht, um in der Küche zu hantieren und über ihr Leben nachzudenken. Sie ist Grundschullehrerin in einem kleinen niederländischen Dorf und seit eineinhalb Jahren unerwartet Witwe. Ihr noch junger Ehemann hat sich eines Tages ohne ersichtlichen Grund, ohne Abschiedsbrief und ohne irgendwelche Warnzeichen erschossen. Seitdem lebt sie wie in Trance, da neben der Trauer vor allem die nicht fassbaren Gründe für diese Tat sie belasten.

1610_schlaflose_nachtObwohl das ganze Dorf nach dem Selbstmord ehrlich mit ihr getrauert hat und auch die Verwandschaft zu ihr gehalten hat, bleibt ein Meer von Fragen, nicht nur für sie. Gerade weil die Nachbarn nichts sagen, bohrt der Verdacht in ihr, die Leute hielten sie in irgendeiner Weise für schuldig. Schließlich kann niemand in eine fremde Ehe hineinblicken. Auch sie selbst grübelt über eine mögliche eigene Schuld nach, kommt aber zu keinem Schluss, da die Ehe von Anfang an harmonisch war.

Während die Erzählerin wegen der Schlaflosigkeit nachts in der Küche werkelt und dabei die Gesellschaft des Hundes genießt, wandern die Stationen ihres Lebens durch ihren Kopf, fragmentiert und ohne zwingende chronologische Ordnung, wie es vor allem nächtliche Gedanken an sich haben. Die Erzählweise spiegelt diese chaotische Denkweise bewusst wieder. Die Zeitebenen wechseln bisweilen in schnellem Takt, und nur der Kontext erlaubt die Zuordnung zu der Zeit vor der Ehe, in der Ehe, nach dem Selbstmord bis hin zur Erzählzeit. Mittlerweile hat sich die junge Frau wieder mit einem Mann liiert, der jetzt auch bei ihr wohnt. Dieser schlafende Mann vermischt sich mit seiner wachen Version ebenso wie mit ihrem früheren Mann, zwar nicht durch gezielte Verwechslung sondern durch die Assoziationsketten und Erinnerungsschnippsel im Kopf der jungen Frau.

Ihre Gedanken führen sie auch zurück in eine Phase, in der sie sich sicher war, eine andere Frau habe eine Rolle bei dem Freitod ihres Mannes gespielt. Und ihre entsprechenden, von einer „posthumen“ Eifersucht getriebenen Recherchen führten sie zurück in die Studentenzeit und zu alten Freunden. Doch der auf eine spannende, mit Kriminalatmosphäre getränkte Geschichte wartende Hörer wird enttäuscht. Hier geht es nicht um die konkrete Auflösung eines rätselhaften Selbstmord – war es überhaupt einer? – sondern um die seelische Befindlichkeit einer jungen Frau, die mit dieser Situation nicht fertig wird. Nur langsam und gegen großen inneren Widerstand muss sie einsehen und akzeptieren, dass es keine einfache Erklärung im Rahmen der üblichen menschlichen Schwächen oder gar Bosheiten gibt. Auch die medizinische Lösung einer Depression wird nicht einmal angesprochen, um dem Zuhörer nicht eine einfach fassbare Lösung anzubieten. Der Tod ihres Mannes wird sie ihr Leben lang als ungelöstes Rätsel begleiten.

Margriet de Moor hat mit dieser Novelle ein kleines Meisterwerk der Psychologie geschaffen. Unspektakulär aber intensiv, ohne Handlungshöhepunkte aber dennoch spannend schildert sie die Befindlichkeit und existenzielle Verunsicherung einer jungen Frau, die sich nach dem unerwarteten Schicksalsschlag nur schwer wieder an ein normales Leben gewöhnen kann, obwohl sie äußerlich einen ruhigen und fast abgeklärten Eindruck vermittelt.Doch wie es da drinnen aussieht, bleibt der Mitwelt verborgen. Nur der Hörer dieses Hörspiels gewinnt einen Einblick in die getroffene Seele.

Ulrike C. Tscharre liest dieses Hörbuch mit genau der Distanz, die die Hauptperson gegenüber ihrer Umwelt aufbaut, um zu überleben und das Geschehene zu verkraften. Diese Distanz wirkt nur vordergründig wie Gleichgültigkeit und erweist sich mit zunehmender Dauer des Hörbuchs als Schutzpanzer, den die Protagonistin um sich aufbaut.

Das Hörbuch ist im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, besteht aus zwei CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 143 Minuten und kostet 15 Euro.

Frank Raudszus

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