Getanzte Emotionen von hoher Dichte

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Nach Schauspiel und Oper hat nun auch das Tanztheater sein neues Programm im Staatstheater Darmstadt vorgestellt. In der neuen Produktion „Spiegelungen“ zeigen drei Choreographen mit tänzerischen Mitteln, wie sich die tatsächlichen oder gefühlten Zwänge der äußeren Welt in den Emotionen der Menschen widerspiegeln. Dabei ist einschränkend zu bemerken, dass nur zwei der drei Produktionen neu sind, während die dritte, „Left Right Left Right“ eine Wiederaufnahme aus dem Programm „Aufwind“ von 2014 ist. Das ist hier nicht als Wertung zu verstehen, sollte aber nicht verschwiegen werden.

Das Stück „Infra“ des englischen Choreographen Wayne McGregor eröffnete den Abend. Auf einer leeren Bühne hat Bühnenbildner Julian Opie im oberen Teil des Bühnenraums ein digitales Laufband über die gesamte Bühnenbreite installiert. Auf diesem laufen grob gerasterte, auf Schwarz-Weiß reduzierte Personen von links nach rechts oder umgekehrt: ruhig, gleichmäßig und distanziert, wie auf dem Weg zur Arbeit oder bei einsamen Spaziergängen. Emotionen sind diesen digitalen Figuren fremd, sie strahlen die Distanz des modernen Menschen zu seiner Umwelt aus. Dazu erkling eine Geräuschcollage aus typischem Verkehrslärm und digitalen Klängen, die den optischen Eindruck verstärkt und die Aussage verdeutlicht.

INFRA | © Regina Brocke Pablo Girolami, Miyuki Shimizu

INFRA | © Regina Brocke
Pablo Girolami, Miyuki Shimizu

Auf der Bühne tanzen dazu, deutlich voneinander getrennt, ein Paar sowie drei einzelne Tänzer, die nebeneinander ohne körperlichen Bezug zueinander ihre Figuren vollführen. Auch hier also der in der Menge isolierte Mensch, daneben aber der Versuch der Paarbildung. Langsam steigert sich die Intensität der Musik, und mit den zunehmenden tänzerischen Aktivitäten auf der Bühne ändert sich auch der Klangcharakter. Streichinstrumente, die schon immer für die Emotion stehen, übernehmen die Führung und sorgen für eine wachsende emotionale Dichte. Entsprechend verdichtet sich auch das Geschehen auf der Bühne. Sowohl die Zahl der Paare als auch der einzelnen Tänzer nimmt deutlich zu, und die Gruppen interagieren immer stärker. Einzelne Männer tanzen typische männliche Bewegungsmuster – Posieren und Ausleben von Machismen -, während Frauen sich aus Paarbeziehungen lösen oder verlassen werden. Allein irren sie in der hin- und herwogenden Menge gegen die allgemeine Bewegung und versuchen, Anschluss zu bekommen oder zumindest bemerkt zu werden. Während auf dem digitalen Laufband die stummen Figuren in wachsender Zahl gleichmütig und unerschütterlich in beiden Richtungen die Bühne überqueren, lässt sich die Menge nach einem langen, intensiven Kampf gegen diese Gleichgültigkeit auf diese Art der Bewegung ein und geht als gleichgerichtete Gruppe ebenfalls gemessenen und resignierten Schrittes über die Bühne. Nur eine einzelne Tänzerin wehrt sich mit zum Schreien verzerrten Gesicht gegen den gemeinsamen Trott. Die Musik wechselt zu einem schwermütigen Klavierthema, das entfernt an Franz Schuberts „Winterreise“ erinnert. Ein wenig fühlt man sich an „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ erinnert, und der Exodus der Gruppe über die Bühne unterstützt diese Interpretation. Nach diesem „Auszug der Masse“ tanzen einige Paare noch einen Abgesang, den man sowohl als den Protest der Standhaften als auch als die Resignation der Zurückgebliebenen deuten kann. Wayne McGregor bietet Assoziationsflächen an, hütet sich jedoch, die Metaphorik bis ins Detail zu verdichten und damit die Interpretationsmöglichkeiten einzuschränken. Die Gegenüberstellung von glattem Äußeren und emotional aufgeladenem Inneren – eben „Infra“ – reicht als Ausgangspunkt für vielschichtige Assoziationen, die letztlich bei jedem Betrachter anders ausfallen. Die Dichte der Darstellung verhindert dabei jede Beliebigkeit und den Rückzug auf die reine Unterhaltung. Dennoch ist der ästhetische Charakter dieser Produktion hervorzuheben. Im Sinne des „neoklassischen“ Tanztheaters sind alle tänzerischen Figuren auf ihre ästhetische Harmonie und Stimmigkeit angelegt, ohne dass auch nur entfernt der Gedanke an Kitsch aufkommt. Die Zeit der Verrenkungen à la William Forsythe scheint weitgehend vorüber zu sein, wie diese gelungene Choreographie zeigt.

Tabula Rasa | Lara Misó Peinado, Polett Kasza, David Cahier, Aurélie Patriarca

Tabula Rasa | © Regina Brocke
Lara Misó Peinado, Polett Kasza, David Cahier, Aurélie Patriarca

Das zweite Stück mit dem Titel „Tabula Rasa“ stammt von Tim Plegge persönlich, dem Leiter des Hessischen Staatsballetts. Auf der Rückseite der Bühne reckt sich eine metallene Struktur aus Gitterelementen nach oben, die man als metaphorischen Verweis auf die heutigen Stadtbilder, aber auch auf die erstarrten Strukturen des öffentlichen Lebens verstehen kann. Tim Plegge verzichtet auf jegliche Festlegung, die auf eine konkrete Geschichte verweisen könnte. Vor und zwischen diesen Gerüsten tanzt eine kleine Gruppe von nur sechs Tänzern und Tänzerinnen zu  suggestiver Musik von Avo Pärt, die dem Stück den Namen gegeben hat. Anfangs klingt diese Musik wie Streichermusik von Vivaldi, dreht dann jedoch zunehmend ins Suggestive endloser motivischer Wiederholung wie in der „minmal music“ eines Philip Glass. Zu dieser immer eindringlicher werdenden Musik tanzen verschiedene Paare, mal gleichgeschlechtlich, mal gemischt. Dabei sind die tänzerischen Figuren der gemischten Paare eindeutig spannungsgeladener, da hier zwei Geschlechter aufeinandertreffen und ihre Andersartigkeit im Tanz ausleben. Vor allem die reinen Frauenpaare tanzen harmonische und eher parallel angelegte Figuren, die nicht von Unterwerfung geprägt sind. Wenn Tänzer aus einer aktuellen tänzerischen Gruppe ausscheiden, dann halten sie sich kurz an den Gitterelementen fest, als suchten sie in dieser Welt der unwägbaren Emotionen nach einem festen Halt. Doch die Struktur gibt keine Antwort außer einer gleichmütigen Beständigkeit.

Tabula Rasa | Ramon John, Lara Misó Peinado, Polett Kasza

Tabula Rasa | © Regina Brocke
Ramon John, Lara Misó Peinado, Polett Kasza

Auch in dieser Choreographie überzeugen die Dichte und die ästhetische Form der tänzerischen Figuren. Ohne dass eine konkrete Geschichte hinter den Abläufen erkennbar wird, sind die Emotionen hinter den einzelnen Figuren unverkennbar und eindringlich umgesetzt. Auch hier obliegt es dem Zuschauer, seine eigenen Deutungen zu entwickeln. Tim Plegge liefert mit dieser Choreographie einen reinen Ausdruckstanz mit einem Minimum an Aufladung durch externe Elemente, von der Musik abgesehen. Doch die Darsteller liefern – abgesehen von ihrem überzeugenden technischen Können – eine eindringliche Darstellung von zwischenmenschlichen Befindlichkeiten ab, die das Publikum vom ersten bis zum letzten Moment in ihren Bann schlägt. Und ein abschließendes metaphorisches Rätsel gibt er den Zuschauern doch noch mit auf den Weg: wenn die letzten Tanzschritte ersterben und die Musik verklingt, öffnen sich eben die Gitter der Struktur, die sich am Anfang geschlossen haben. Oder schließen sie sich, nachdem sie sich zu Beginn geöffnet haben? Die Antwort darauf muss jeder Besucher selbst herausfinden.

Die dritte Choreographie, „Left Right Left Right“ von Alexander Ekman, war in genau dieser Ausprägung bereits Teil des Ballettabends „Aufwind“ vom Oktober 2014. Der damaligen Rezension ist nichts hinzuzufügen.

Das Publikum im ausverkauften Großen Haus war von diesem Tanzabend begeistert und spendete kräftigen Beifall.

Frank Raudszus

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