Ian Kershaw: „Höllensturz“

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Anlässlich der hundertsten Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs sind in den letzten Jahren umfangreiche Beschreibungen und Analysen erschienen. Christopher Clark hat in den „Schlafwandlern“ minutiös die letzten Monate vor dem Ersten Weltkrieges seziert, Herfried Münkler den Verlauf eben dieses Krieges in „Der große Krieg“ im Detail beschrieben und Adam Tozze in „Sintflut“ die Umbrüche in den zwanziger Jahren geschildert, um nur drei Bücher zu nennen. Die Fülle des Materials und der wissenschaftliche Anspruch der Autoren haben eine Beschränkung auf eine überschaubare Epoche geradezu erzwungen. Die Menge der Fußnoten und Anmerkungen in diesen drei Beispielen zeigt deutlich das umfangreiche Quellenstudium und die schiere Menge der dahinter stehenden Daten und Informationen.

Ian Kershaw geht in seinem Buch „Höllensturz“ einen anderen Weg. Er breitet die Epoche von 1914 bis 1949 vor  den Lesern wie eine große Erzählung aus. Es geht ihm nicht um die Nachweisbarkeit und wissenschaftliche Genauigkeit seiner Ausführungen, sondern vor allem um die Lesbarkeit und die großen Zusammenhänge. Jeder, der sich durch wissenschaftlich orientierte Bücher gekämpft hat, kennt die Versuchung, bei einer Fußnote sofort an den Schluss der Seite oder in den separaten Anmerkungsteil zu wechseln, um die Neugier zu befriedigen. Kershaw verhindert diesen „Riss“ in der Lektüre, indem er ganz auf Anmerkungen verzichtet. Die Details seiner Epochenerzählung hat er aus unzähligen verfügbaren Sachbüchern bzw. aus seiner Allgemeinbildung gewonnen und betrachtet es nicht als notwendig, jedes Detail zu belegen. Dabei unterstellt er bei seinen (anspruchsvollen) Lesern  eine gute Allgemeinbildung und umfangreiches historisches Wissen. Auf der anderen Seite erleichtert er Lesern ohne dieses Hintergrundwissen die Lektüre, indem er dieses knapp halbe Jahrhundert wie einen spannenden Dokumentarbericht erzählt.

Natürlich spielen die beiden Kriege mit ihren Grausamkeiten und Verbrechen – vor allem der Zweite Weltkrieg – eine wesentliche Rolle, doch Kershaw verliert sich nicht in Schlachtbeschreibungen und militärischem „Hätte und Wenn“, sondern beschränkt sich auf die wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dabei nehmen die unglaublichen Verbrechen der  Nationalsozialisten vor und vor allem während des Krieges einen breiten Raum ein. Man spürt trotz seiner nüchternen Darstellung der Verbrechen und der unfassbaren Opferzahlen sein Entsetzen über den elementaren Verlust aller kulturellen und zivilisatorischen Grundsätze. Dagegen wirkt die europaweite Abneigung gegen einen Verständigungsfrieden im Ersten Weltkrieg trotz der unglaublichen Verluste an der Front und in der jeweiligen Heimat geradezu harmlos.

Wichtig sind Kershaw jeoch vor allem die Zwischen- und Nachkriegszeiten. Den politischen Umbrüchen der zwanziger Jahren mit ihrem fast zwangsläufigen Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland schenkt er ebenso viel Aufmerksamkeit wie der verheerenden Fehleinschätzung Hitlers durch die Alliierten und der damit einhergehenden „Appeasement“-Politik Chamberlains. Deutlich zeigt er, dass die Weltgeschichte ganz anders verlaufen wäre, hätte man Hitler 1936 mit militärischen Mitteln an der Besetzung des Rheinlands gehindert. Doch auch hier sind ihm contrafaktische Überlegungen fremd, da letztlich gilt: „Es ist, wie es ist.“

Neben den militärischen und politischen Ereignissen gilt der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung vor allem in der Zwischenkriegszeit seine Aufmerksamkeit, da ihm bewusst ist, wie stark die jeweilige ökonomische Situation auf die Politik zurückschlägt. Die Abneigung Englands und Frankreichs gegenüber einem militärischen Vorgehen gegen Hitler in den dreißiger Jahren war weitgehend auf die angespannte bis desolate wirtschaftliche Lage in beiden Ländern zurückzuführen, und militärische Abenteuer hätten bei der Bevölkerung beider Länder nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs kein Verständnis gefunden.

Gründlich geht Kershaw auf die autoritären Systeme der Zwischenkriegszeit ein. Neben dem vergleichsweise gemäßigten Faschismus Italiens, der die deutsche Variante erst in Fahrt brachte, beschreibt er den wesentlich aggressiveren und kompromissloseren Nationalsozialismus sowie den Stalinismus in der Sowjetunion mit ihren internationalen politischen Implikationen. Vor allem die sich geradezu überstürzende Entwicklung Ende der dreißiger Jahre mit der Eingliederung von Österreich und der Tschecheikrise, den fatalen militärischen Abenteuern der Italiener in Afrika, der stalinistischen Aushungerung der Ukraine und dem die ganze Welt überraschenden Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion nimmt einen breiten Raum in seiner Schilderung ein. Doch daneben vergisst er auch andere Schauplätze wie Spanien mit seinem blutigen Bürgerkrieg und die Einmischung seitens der Sowjetunion auf der einen Seite und Deutschlands sowie Italiens auf der anderen Seite nicht. Das gesamte Geschehen zwischen den Britischen Inseln und dem Ural, zwischen dem Nordkap und Nordafrika wird hier miteinander verwoben und in seiner gegenseitigen Abhängigkeit aufgezeigt. Die „Ausweitung der Kampfzone“ vor und vor allem während des Krieges – oder der Kriege – ergab sich nur zum Teil aus einer imperialen Strategie der Akteure. In vielen Fällen folgten sie zwangsläufig aus den Abhängigkeiten der Akteure untereinander, so etwa der Krieg im Balkan und in Afrika.

Ian Kershaw geht es nicht um neue Deutungen oder gar eine Neuschreibung der Historie. Auch Kriegsschuldfragen interessieren ihn nur in kausaler und nicht moralischer Hinsicht. Er will vor allem die internationale Verflechtungen aller europäischen Akteure aufzeigen, die letztlich zu den beiden Katastrophen führten, von der die zweite bei einer klugen Aufarbeitung der ersten vermeidbar gewesen wäre. Aber da gerät man wieder an die Grenze contrafaktischer Überlegungen, und die erspart sich Kershaw bewusst.

Dieses Buch sollte man – zumindest auszugsweise – zur Pflichtlektüre in europäischen Schulen machen, weil es einerseits Sachwissen in spannend-erzählerischer Form vermittelt und andererseits frei von jeglichen Ressentiments, revisionistischen Anschauungen oder moralischen Schuldzuweisungen ist. Es beschreibt einfach, wie es war, und das eindringlich und mit einer gehörigen Portion humanistischen Engagements.

Das Buch „Höllensturz“ ist in der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst 707 Seiten und kostet 34,99 Euro.

Frank Raudszus

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