Große Musik im Kleinen Saal

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Wenn ein Pianist mit Bachs „wohltemperiertem Klavier“ vor Publikum antritt, wird meistens der größtmögliche Raum reserviert. Handelt es sich doch um eines der bedeutendsten musikalischen Werke, dessen Interpretation die höchsten technischen und musikalischen Ansprüche stellt. In Darmstadt jedoch zielte man mit diesem Werk ganz bewusst auf eine kleine „Insider-Gemeinde“, denn das Foyer der Kammerspiele bot nur Platz für etwa hundert Besucher. Zusätzlich konnten einige Besucher diesen Abend aus der erhöhten Position der Bar verfolgen, da das Foyer bereits ausverkauft war.

Nicht zuletzt der Name des Interpreten lockte die Besucher in die Kammerspiele. Joachim Enders arbeitet seit Jahren als Studienleiter an der Oper des Staatstheaters und ist auch außerhalb dieser Wirkstätte oft musikalisch aktiv, zum Beispiel an der Orgel einer Kirche oder bei privaten Konzerten. Vor zwei Jahren gewann er den Darmstädter Musikpreis für sein vielfältiges musikalisches Engagement. In Darmstadt und Umgebung wird er, der nicht die Karriere des reisenden Solo-Interpreten gewählt hat, seit längerem als Geheimtipp gehandelt. Daher war der Saal voll, und die musikalisch durchweg kompetenten Besucher erwarteten einen großen musikalischen Abend.

Und in dieser Erwartung wurden sie nicht enttäuscht. Nach einer kurzen Einführung zu Werk und Interpret durch den Konzert-Dramaturgen Gernot Wojnarowicz begann Joachim Enders mit dem berühmten C-Dur-Präludium, dem einzigen Stück aus dieser Sammlung, dass auch Anfänger spielen können. Schon bei diesem Präludium zeigte er, dass er sich dem „wohltemperierten Klavier“ nicht mit den feinsinnigen Fingern eines Frühromantikers zu nähern beabsichtigte. Mit zügigem Tempo und markantem Anschlag gab er von Beginn an einer kraftvollen Musik den Vorzug. Doch das übermäßig abgesetzte, stakkatohafte Spiel, wie es etwa vor Jahrzehnten Glenn Gould praktizierte, ist nicht sein Stil. Trotz einer zugreifenden Interpretationsweise arbeitet er immer wieder die musikalischen Charakteristiken jedes einzelnen Stückes dieser vierundzwanzig Paarungen aus jeweils einem Präludium und einer Fuge heraus. Neben dem kraftvollen, fast stürmischen Spiel – wie etwa bei dem Präludium c-Moll – kommen auch nachdenkliche oder introvertierte Interpretationen zum Tragen. Diese achtundvierzig „Übungsstücke für Anfänger und Fortgeschrittene“, wie es Bach selbst sinngemäß geäußert hat, sind keine bloßen Etüden mit auf- und ab rasenden Läufen und langweiligen Fingerübungen, sondern hochkomplexe musikalische Strukturen mit je einzigartiger Ausdruckskraft. Nicht nur die vierundzwanzig unterschiedlichen Tonarten, sondern auch die individuelle musikalische Gestaltung machen jedes Stück zu einem kostbaren Unikat.

Joachim Enders war sich dieser Tatsache natürlich bewusst und zelebrierte jedes Stück als ein eigenständiges Kunstwerk, ohne dabei jedoch in Überinterpretation oder gar Virtuosengehabe zu verfallen. Bei ihm gilt wirklich der Satz, dass der Interpret vollständig hinter dem Komponisten und seiner Musik zurückzutreten hat, sozusagen der „Diener“ des Komponisten ist. Mit minimalem körperlichem Einsatz – nichts sollte von der Musik ablenken – verlieh er jedem Stück seine eigene Ausdruckskraft. Bereits die erste Fuge in C-Dur spielte er in ungewöhnlich forciertem Tempo, was gerade bei der Tonart C-Dur durchaus nachvollziehbar ist. Andere Interpreten spielen dieses Stück ausgesprochen langsam und introvertiert, Enders jedoch folgte dem Charakter des Strahlenden dieser Tonart und setzte auf Dynamik. Auch die Fuge in cis-Moll, wegen des „Kreuz-Themas“ gerne langsam und mit leidendem Ausdruck interpretiert, spielte er kraftvoll und mit angezogenem Tempo. Hier stand nicht das Leiden Christi am Kreuz im Vordergrund sondern die Eigenart der Musik selbst, die sich nicht mit externer Bedeutung aufladen muss.

Enders spielte die einzelnen Stücke ohne Pause, setzte sie jedoch so gut voneinander ab, dass man jederzeit wusste, wo er sich befand. Die Struktur der Fugen, die stets mit einem einzeln vorgetragenen Thema beginnen, erleichterte dabei die Orientierung, wenn etwa nach einem längeren Präludium mit eingestreuten Generalpausen die Orientierung etwas verloren zu gehen drohte. Als er die erste Hälfte mit der Fuge in f-Moll beendete, benötigten die Zuhörer wegen der hohen Konzentration, die diese Musik erfordert, tatsächlich eine Pause, um sich zu generieren. Danach konnte es mit den zweiten zwölf Tonarten weitergehen, und auch hier gelang es Joachim Enders, jedem Präludium und jeder Fuge einen ganz eigenen musikalischen Charakter zu verleihen. Damit verdeutlichte er auch den Anspruch dieser Musik, die viele Musikkenner durchaus als die Basis der europäischen Musik der letzten dreihundert Jahre betrachten. Nach zwei Stunden endete dieses denkwürdige Konzert mit der Fuge in h-Moll, die nicht nur das letzte, sondern auch das längste und das „jenseitigste“ Stück und damit der Höhepunkt dieser Sammlung ist. Es verweist unverkennbar auf Bachs anderes großes Werk, die Messe in h-Moll. Darüber hinaus verweist diese höchst verdichtete Fuge in ihrer komplexen Introvertiertheit auf das Adagio von Beethovens „Hammerklaviersonate“. Nach dieser Fuge fiel der (nicht vorhandene) Vorhang, und alle Fragen waren offen! Denn man kann nach einem solch intensiven und anspruchsvollen musikalischen Abend nicht einfach zur Tagesordung übergehen. Die Wirkung hält noch Stunden, wenn nicht Tage an.

Man darf hoffen, Joachim Enders künftig öfter als Solo-Interpreten zu hören.

Frank Raudszus

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