Klangflächen zwischen Bach und Boulez

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Musiker – und vor allem die Solisten – sind ständig mit der Frage konfrontiert, wie sie dem Publikum neuere Musik nahebringen und die Hörgewohnheiten erweitern. Die übliche Variante besteht darin, modernere Komposition in ein Programm „konventioneller“ Stücke einzubetten – möglichst in der Mitte des Abends, um späteres Kommen oder früheres Gehen zu verhindern. Der Pianist Herbert Schuch hat diese Fragestellung in seinem Solo-Abend im 6. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt um eine weitere Lösungsvariante erweitert: er verflocht die zwölf „Préludes“ von Claude Debussy aus dem Jahr 1913 aufs engste mit den ebenfalls zwölf „Notations“ von Pierre Boulez, die im Jahr 1945 entstanden. Dieses Experiment rundete er mit mehreren Klavierwerken Johann Sebastian Bachs ab – unter anderem in einer Bearbeitung von Ferrucio Busoni.

Gleich zu Beginn forderte Herbert Schuch das Publikum mit dem anspruchsvollsten Werk des Abends heraus. Claude Debussys „Préludes“ stellen bereits alleine hohe Anforderungen an das Rezeptionsvermögen der Zuhörer. In ihnen reizt der Komponist die klanglichen Möglichkeiten der tonalen Musik und die Mittel des Klaviers aus und schafft dabei schillernde und irisierende Klangflächen. Jedes der zwölf Préludes weist seine ganz eigene Charakteristik auf, die Debussy zusätzlich mit programmatischen Titeln wie „Nebel“, „Welke Blätter“, „Das Tor des Weines“ oder „Feuerwerk“ markiert hat. Doch Debussy behält dabei stets ein musikalisches Gesamtkonzept aus einem Motiv und dessen Abwandlungen oder Wiederholungen bei. Dabei geht er durchaus an die Grenzen des durchgehenden Konzeptes und verdichtet das musikalische Geschehen auf reine Klangwirkungen. Pierre Boulez dagegen verzichtet weitgehend auf ein geschlossenes musikalisches Konzept im Sinne einer wiedererkennbaren Entwicklung eines Motivs und setzt nur noch auf die Wirkung des einzelnen Tons und der harmonischen Wirkung des musikalischen Einzelereignisses. Die klanglichen Wirkungen reizt er bis zum Extrem aus und geht dabei bis hin zu Clustern oder atonalen, mit dem Handrücken gespielte Klangflächen, um hier nicht von „Läufen“ zu reden. Die Gegenüberstellung dieser beiden musikalischen Folgen lässt sich auch aus der Zeit herleiten. Debussys 1913 komponierte Préludes spiegeln noch die höchst verfeinerte Welt des „fin de siècle“ wider, während Boulez´“Notations“ musikalisch die Schrecken zweier Weltkriege in sich tragen.

Herbert Schuch spielte die einzelnen Stücke dieser beiden Werke abwechselnd und zeigte damit, wie sich Boulez´Musik sozusagen aus der Debussys entwickelt hat. Bisweilen scheint eine „Notation“ geradezu organisch aus dem vorangehenden Prélude hervorzugehen, so dass dieser beiden Werke unkundige Zuhörer den Wechsel gar nicht bemerken. Erst im Laufe einer Notation schält sich dann die zeitliche Distanz zu dem Prélude von etwa über dreißig Jahren heraus, wenn die Musik buchstäblich in tonale und motivische Extreme zerfällt. Einfacher dagegen ist der Wechsel von Boulez zu Debussy, weil der „Rückschritt“ zu der harmonisch geschlosseneren Welt des älteren Franzosen deutlich erkennbar ist. Herbert Schuch gab mit dieser höchst konzentriert und pointiert vorgetragenen Kombination eine Lektion in der Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert, die das Publikum in ihren Bann schlug.

Nach der Pause ging es dann konventioneller zu. Nacheinander erklangen die Englische Suite Nr. 3 g-Moll und die Partita für Klavier solo Nr. 2 in e-Moll von Johann Sebastian Bach, womit Schuch den Zuhörern und deren Hörgewohnheiten ein wenig Erleichterung gönnte. Man konnte sich bei diesen beiden Interpretation in die Welt Bachs versenken und die Transparenz wie die Klarheit dieser Musik genießen. Gerade in der Partita zeigte Schuch eine andere Entwicklung der Musik im Barock: den Übergang von der linear-horizontalen zur mehr vertikalen Komposition. In der Partita arbeitete er deutlich die sinfonischen Elemente mit den breiten Akkordketten heraus, die dem Stück eine ganz andere Fülle verleihen als die linearen Motive der Suite.

Der Abend endete dann auch mit Bach, aber in einer Fremdbearbeitung. Johann Sebastian Bachs Chaconne d-Moll BWV 1004 entstand ursprünglich für Violine solo. Diese extrem lineare Komposition bearbeitete Ferrucio Busoni für das Klavier, also für ein ausgesprochen harmonisch-akkordisches Instrument, dessen Möglichkeiten er denn auch weidlich nutzte. Busonis Bearbeitung verleiht dieser Chaconne ausgesprochen sinfonische und in einzelnen Momenten unverkennbar spätromantische Züge. Akkordische Fülle und harmonisch schwelgende Bögen prägen diese Musik, in der sich zwar das Bachsche Original nie ganz verliert aber doch ganz andere Züge annimmt. Dennoch wirkt diese Musik nie seicht oder gar verkitscht, weil Busoni als ausgewiesener musikalischer Experte bei seiner Umarbeitung auf die Einhaltung hoher Qualität achteet. Ob man diese Version Bachscher Musik mag, ist eine andere Sache, doch Herbert Schuch schloss mit diesem Abschlusstück noch einmal den Kreis von Alt und Neu und verband noch einmal, wie schon bei Debussy und  Boulez, zwei musikalische Epochen auf eindrucksvolle Weise.

Das Publikum zeigte sich angetan von diesem Abend und dankte dem Solisten durch lang anhaltenden Beifall. Schuch spielte deshalb als Zugabe noch ein Choralvorspiel von Bach, ebenfalls in der Bearbeitung von Ferrucio Busoni.

Frank Raudszus

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