Dieter Thomä: „Puer Robustus – Eine Philosophie des Störenfrieds“

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Seitdem es strukturierte menschliche Gesellschaften mit definierten Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen gibt, existiert auch der Störenfried, der sich nicht in die gegebene Ordnung einfügen will und sie auf vielfältige Weise bekämpft. Der vielleicht berühmteste Störenfried ist Jesus, der nicht nur gegen die römischen Besatzer sondern auch gegen die jüdischen Priesterkaste opponierte. In einem Atemzug könnte man Martin Luther nennen oder Heinrich IV., der gegen den Vatikan unter Papst Gregor VII. opponierte und sich erst in Canossa unterwarf.

Doch gerade diese Fälle hat Dieter Thomä in seinem Buch ausgespart, da er sich ausdrücklich auf die Epochen einer wohl definierten Staatstheorie (und -praxis) beschränkt. Die Herrschaft eines wie auch immer gearteten Klerus´ betrachtet er offensichtlich nicht als staatliche Organisation sondern als selbstgesetzte Herrschaft ohne staatsrechtliche Legitimation. Dabei hätte man die Betrachtung des „Störenfried“-Phänomens durchaus in der Antike beginnen lassen können, denn  sowohl die Griechen als auch die Römer lebten über lange Zeit in klar definierten und strukturierten Gesellschaften. Obendrein hat ausgerechnet Horaz das Schlagwort vom „puer robustus“ (kräftiger Knabe) in die Welt gesetzt, allerdings nicht unbedingt in einem staatsphilosophischen Kontext. Allerdings hätte eine solche Erweiterung das ohnehin schon umfangreiche Buch ins Unüberschaubare ausgedehnt, und so ist die Beschränkung des Themas auf die Neuzeit nachvollziehbar.

Der englische Staatsrechtler Thomas Hobbes bildet den Bezugspunkt des Buches, und Thomä zitiert ihn nicht nur zu Beginn, sondern kehrt immer wieder zu ihm zurück wie zu einem logischen Ankerplatz. Hobbes definierte den „puer robustus“ in seinem Buch „De Cive“ als ungehobelten Naturmenschen, der nur seinen Eigennutz kennt und jegliche Unterordnung unter eine gesellschaftliche Ordnung ablehnt. Er kann als Epileptiker, Narr oder Wahnsinniger auftreten und muss durch die Vernunft zur Einsicht gebracht werden. Diese führt mit fortschreitendem Alter angeblich zu der Einsicht, dass sich das Eigeninteresse am besten im Rahmen eines geregelten Staatswesens verfolgen lässt.

Die Theorie des bösen Naturmenschen, den die Gesellschaft zum guten Mitglied der Gemeinschaft erzieht, schlägt bei Jean-Jacques Rousseau ins Gegenteil um. Hier steht einer verdorbenen und ungerechten Gesellschaft ein „guter Wilder“ entgegen, der mit der Aufgabe antritt, die Gesellschaft mit seinem angeborenen Mitleid von Grund auf umzugestalten und in eine friedvolle und gerechte Gemeinschaft zu überführen. Das Mitleid führt laut Rousseau zu Gleichheit und damit schließlich zur Gerechtigkeit.

In beiden Fällen verliert der Störenfried nach getaner Arbeit seinen „Kerncharakter“ und wird zum friedlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Was bei Hobbes logisch nachvollziehbar ist, zeigt sich bei Rousseau in gewisser Weise als Widerspruch, da er nach Umgestaltung der Gesellschaft mit keinem weiteren Bedarf an Störenfrieden rechnet, ja sie sogar als schädlich empfindet. Beide Philosophen sehen den Störenfried nur als temporäres Element, das es entweder auszumerzen gilt oder das sich selbst überflüssig macht.

Mit Denis Diderot führt Thomä dann einen Denker ein, der den Störenfried als integralen Bestandteil jeder Gesellschaft definiert und ihm einen permanente Lebensberechtigung zuweist. Diderot betrachtet das Phänomen nicht herrschaftslogisch oder moralisch sondern intellektuell und erweitert damit das Spektrum erheblich. Thomä stellt Diderots philosophischen Dialog „Rameaus Neffe“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und beschreibt an Hand dieses Werkes Diderots philosophische Position. Demnach ist der Störenfried ein Schauspieler, der dank seines Talents und seiner Auffassungsgabe die verschiedensten Rollen durchspielt. Er hält damit der Welt nicht nur einen Spiegel vor die Augen sondern entwirft auch alternative Lebens- und Gesellschaftsmuster. Diderot verlässt damit die Doktrin einer einzig möglichen Ordnung und Moral und stellt die permanente Unruhe als belebendes und letztlich fortschrittliches Element in den Vordergrund. Bei ihm überlebt der Störenfried notwendigerweise alle Zeiten und Umstände.

In die gleiche Kerbe wie Diderot schlagen auch Hegel und – später – Michel Foucault, während Goethe in dem Dialogpartner des Neffen – „ich“ genannt – in geradezu naiver Weise den Autor und dessen Weltbild vermutete. Die Konservativen, zu denen Goethe zweifellos gehörte, sahen in dem Neffen nur das bedenkliche bis verachtenswerte Beispiel eines verantwortungslosen und unreifen Störenfrieds. Allerdings kann sich Hegel mit einer „Heiligsprechung“ des Störenfrieds nicht anfreunden, da er als Staatsrechtler die Funktionsfähigkeit der gesellschaftlichen Ordnung für einen zentralen Aspekt hält und außerdem die Schattenseiten eines extremen Störenfrieds sieht.

Wegen dieser Ambivalenz führt Thomä eine systematische Abgrenzung verschiedener Typen des Störenfrieds ein: der egozentrische Störenfried sucht nur seinen Vorteil und sieht die Gesellschaft  als Plattform für sein Eigeninteresse. Hier erwähnt Thomä explizit die Investmentbanker vor und in der Finanzkrise. Der exzentrische Störenfried ist ein Gegner aller festen Ordnungen und Hierarchien, ohne deshalb in seinem Protest eigene Interessen zu verfolgen. Sein Widerstand ist oft noch unklar und nicht zielgerichtet, kann aber Anstöße zu Veränderungen geben. Dagegen verfolgt der nomozentrische Störenfried ein klares Ziel der Weltumgestaltung. Hier könnte man – neben Jesus – Rousseau oder  auch Karl Marx anführen. Dem massiven Störenfried dagegen geht es nur um die Aktion, die „Randale“, in der er sich selbst findet. Daher tritt dieser Typus, etwa die SA-Männer oder die Fußball-Hooligans, nur in anonymen Gruppen auf.

Diese Typologie zieht sich wie ein roter Faden durch die weiteren Ausführungen des Autors und wird auf verschiedene konkrete Ausprägungen angewendet. Mit Victor Hugos „Glöckner von Notre Dame“ bleibt Thomä im Bereich des fiktiven Störenfrieds. In ihm sieht er den exzentrischen Typus, der von der Gesellschaft ausgegrenzt und verachtet wird, jedoch nicht über die notwendigen Fähigkeiten des Nomozentrikers verfügt. Dagegen ist Richard Wagners Siegfried als Reinform des nomozentrischen Störenfrieds zu sehen, der als „guter und wahrhafter“ Naturmensch in der Lage ist, eine verkommene Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen. Am Beispiel Siegfried (und Wagner) zeigt Thomä auch die Gefahren einer Ideologisierung auf, wenn schwammige Begriffe wie „wahrhaftig“, „aufrichtig“ oder „natürlich“ ohne konkrete Definitionen und Begründungen als Rechtfertigung für den allumfassenden Umsturz dienen. Wagner wie auch später Zizek oder Badiou wirft er eben diese Schwammigkeit vor, die das Fehlen klar definierter Alternativen zu den jeweils herrschenden Verhältnissen verdecken soll.

Auch die Psychoanalyse kommt bei Thomä  zu Wort. Sigmund Freuds Theorie des Ödipus-Komplexes passt für ihn genau zu der Theorie des Störenfrieds, da Freud damit einen menschheitsinhärenten Generationenkampf zwischen Vater und Sohn unterstellt. Demnach muss die nächste Generation geradezu gegen die vorangehende kämpfen, um in ihr den Vater zu töten. Gerade in diesem Zusammenhang weist Thomä darauf hin, dass fast alle Theoretiker stets nur den „puer“, aber nie die „puella“ betrachten. Noch Freud betrachtet die Frauen als zweitrangige Wesen, die nur in familiären Kategorien denken. So dient die Frau bei Freud auch nur als Bezugsobjekt und als unterschwellige (weil sexuelle) Bedrohung, während der Mann (Vater) als gleichwertiger Gegner aufgefasst wird.

Ein umfangreiches Kapitel widmet der Autor dem Philosophen Alexis de Tocqueville, der sich vor allem mit der Situation in den noch jungen USA beschäftigte. Dieses Land sahen die Europäer je nach Mentalität entweder als Vision einer echten Demokratie oder als Paradies der Gangster und wilden Cowboys, sprich des „puer robustus“ in Reinkultur. Tocqueville bedauert denn auch, dass die Amerikaner so schnell die Sitten des (verderbten) Europas angenommen hätten. Zwar verwendet er nicht den Begriff des „puer robustus“, doch der Sache nach beschreibt er genau diesen Typus, wenn er über das Land der Pioniere und Abenteurer schreibt. Natürlich darf auch Nietzsche, selbst das Paradebeispiel des exzentrischen und nomozentrischen (es gibt immer Überschneidungen) Störenfrieds. Er kritisiert Tocquevilles inkonsistente Kritik an den USA und seine Forderung nach staatstragenden Eigenschaften und setzt seine Sicht des politischen und gesellschaftlichen Störenfrieds wesentlich tiefer und elementarer an.

Marx und Engels bilden ebenfalls ein wichtiges Kapitel in diesem Buch. Doch beide sperren sich gegen Thomäs prinzipiell individualistisch angelegten Störenfried. Sie betonen die Rolle des Kollektivs, das sozusagen eine „kollektive Identität“ entwickeln muss und wird. Dabei unterlaufen ihnen laut Thomä jedoch logische Fehler, wenn sie  das revolutionäre Kollektiv (die ausgebeuteten Arbeiter) einerseits als Gattungswesen begreifen, das zwangsläufig und ohne bewusstes Zutun zur Revolution schreiten muss, und andererseits als Gemeinschaftswesen, das aus Individualisten ein demokratisch gesinntes Kollektiv erschafft. Auch Fehleinschätzungen des Lumpenproletariats und seiner Rolle im revolutionären Kampf weist er ihnen nach. Denn dieses zeigte sich entgegen der Marx´schen Theorie schon für kleine Wohltaten „bestechlich“ und verweigerte den Kampf, womit es zum „egozentrischen“ Störenfried mutierte. In diesem Zusammenhang weist Thomä auch auf das „Lumpenproletariat der Reichen“ hin, das mit derselben Mentalität wie ihr niederes Pendant ausschließlich den kurzfristigen eigenen Vorteil sucht.

Die letzten Kapitel gelten dann den konkreten Ausprägungen des „puer robustus“ im 20. Jahrhundert. Jetzt kommen nicht mehr Theoretiker, Denker und Dichter zu Wort sondern Politiker und ihre Gegner selbst. Die Kulturrevolution in China ist für Thomä der klassische Fall eines massiven Störenfrieds, der jedoch entgegen der ursprünglichen Definition von der herrschenden Schicht autorisiert und buchstäblich „losgelassen“ wird. Hier dient ein angeblich gerechter Protest des „Volkes“ nur dazu, wild gewordene Horden auf die Opposition zu hetzen. Die SA lässt grüßen, wenn auch Thomä diese Assoziation nicht explizit erwähnt.

Auch die Anarchisten, Terroristen und Untergrundkämpfer des 20. Jahrhunderts sowie ihre Kritiker und Apologeten kommen hier zu ihrem Auftritt, seien es rechte Staatsrechtler wie Carl Schmitt und Leo Strauss, der selbst vor den Nazis fliehen musste, in der Wolle gefärbte Konservative wie Helmut Schelsky oder Linke wie Max Horkheimer. Alle haben sich auf ihre je eigene Weise zum Problem des Störenfrieds geäußert, und Thomä blättert diese Kontroversen und Richtungskämpfe im Detail auf.

Zum Schluss kommt er noch auf die Gegenwart zu sprechen und geht einerseits auf den (islamistischen) Fundamentalismus, andererseits auf massive Störaktionen ohne erkennbares Ziel ein. Bei den Islamisten sieht er vor allem eine bequeme Opferrolle, die einerseits jegliche Eigeninitiative wegen Machtlosigkeit sinnlos macht, andererseits die Rechtfertigung zur großen, befreienden Tat verleiht. Dabei geht es ihm jedoch nicht um praktische Ratschläge, wie gegen Islamismus und Fundamentalismus vorzugehen sei, sondern in erster Linie um die Erkenntnis der Zusammenhänge. Dass sich daraus Handlungsanweisungen ergeben können, ist eine andere Sache. Jedenfalls bezieht er eindeutige Positionen sowohl gegenüber den populistischen und leer dröhnenden Aussagen von Vorzeige-Linken wie Slavoj Zizek und Alain Badiou als auch gegenüber Intellektuellen wie Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk, die sich deutlich gegen die Grenzöffnung für Flüchtlinge im Jahr 2015 geäußert haben.

Diese Rezension kann nur einen kurzen Abriss der Thematik und der Argumentation geben, die Dieter Thomä in seinem Buch ausbreitet. Er legt damit ein nicht nur ausgesprochen kompetentes und sachliches Buch ohne jegliche vordergründige Polemik vor, sondern schafft es auch, trotz des anspruchsvollen Stoffes die Lesefreude zu erhalten. Man liest das Buch zwar nicht gerade wie einen Krimi, aber bei jedem neuen Kapitel ist man bereits gespannt, wie er sein Thema in einem völlig neuen Kontext angeht. Ein umfangreicher Anmerkungsteil (über 150 Seiten!) mit Literaturverweisen, weiteren Kommentaren und einem Register steht als Beweis dafür, dass er es sich mit den Belegen für seine Thesen nicht leicht gemacht hat. Vage oder gar weltanschaulich gefärbte Behauptungen sucht man in diesem Buch vergeblich, ohne dass man man mit allen Aussagen übereinstimmen muss. Schließlich bieten gerade die literarischen und philosophischen Beispiele viel Diskussionsstoff. Und auch über die aktuellen Ereignisse und die großen politischen Wellen des 20. Jahrhunderts gibt es divergierende Ansichten. Dieses Buch versucht, alle diese Strömungen aus einer bestimmten Perspektive – die des „Störenfrieds“ – zu beleuchten und Gemeinsamkeiten zu finden. Für Interessenten des philosophisch-politischen Themenkomplexes bietet dieses Buch eine reiche Fundgrube an Deutungen und Erkenntnissen.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 715 Seiten und kostet 35 Euro.

Frank Raudszus

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