Absurdistan ist überall

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Thomas Melle ist eigentlich Romanschriftsteller und war letztes Jahr bereits für den Buchpreis nominiert. Mit „Ännie“ hat er sich auf die Theaterbühne gewagt, doch merkt man diesem Stück den literarischen Schwerpunkt seines Autors deutlich an. „Ännie“ ist eher eine Collage von Meinungen, Befindlichkeiten, Vorurteilen und Ängsten, die der Autor wie auf einer weiten Fläche vor den Augen der Zuschauer ausbreitet. Eine Handlung im herkömmlichen Sinne gibt es nicht oder nur in Ansätzen, und jede mögliche Entwicklung wird sofort durch ein kontrastrierendes Element unterlaufen und ad absurdum geführt.

Ensemble

Romy (Karin Klein), eine etwas haltlose Frau in den Vierzigerin, hat vor zwei Jahren ihre Tochter Annemarie verloren, die sich selbst modisch „Ännie“ nannte. Sie ist jedoch nicht an einem Unfall oder einer Krankheit gestorben, sondern ganz einfach verschwunden. Ihre exaltierte Persönlichkeit, nicht zuletzt bedingt durch den Lebenswandel ihrer Mutter, lässt auf alle Möglichkeiten schließen, und so schießen die Gerüchte bei den Beteiligten auch kräftig ins Kraut, wobei das Internet eine wichtige Rolle als Quelle und Multiplikator von (Fake) News aller Art spielt.

Um Romy herum hat sich ein Mikrokosmos seltsamer Figuren gebildet, deren Beziehungen sich nur in wenigen Fällen nachvollziehen lassen. Der ehemalige Polizist Fred (Mathias Znidarec) pflegt ein minimales Intimverhältnis mit Romy, das sich nur alle paar Jahre konkretisiert. Dennoch glaubt Fred, Ännies Vater zu sein. Die selbe Perspektive hat Herrn Fassbender (Hubert Schlemmer) dazu motiviert, Ännie Unterschlupf und Erziehung anzubieten, als sich Romy diverse Male einer Alkoholentziehungkur unterzog. Sein Äußeres weckt Assoziationen an den im Deutschen so gerne und oft verwendeten Begriff „Spießigkeit“, und seine Frau (Ute Fiedler) verkündet genüsslich, dass er zwar über eine Lehrberechtigung an der Uni, aber nicht über eine ordentlich bezahlte Stelle verfüge. Sie selbst war eine Zeit lang Ännies Lehrerin und weiß von deren Eskapaden zu berichten. Außerdem ist sie einer paranoiden Islamophobie verfallen und erwartet jeden Augenblick die Apokalypse in Gestalt riesiger Islamistenhorden. Hauke (Cornelius Schwalm) und Heike (Jana Zöll) stehen in keinerlei nachvollziehbarem Verhältnis zu Romy oder Ännie. Sie sind einfach da und schwadronieren mit den anderen um die Wette. Hauke suhlt sich dabei in einem nur schwach als Empathie kaschierten Voyeurismus gegenüber Romys Schmerz, den diese jedoch scheinbar kühl an sich abperlen lässt. Heike äußert sich vorwiegend in spitzen Schreien und Ausrufen des Erstaunens oder durch ostinate Wiederholungen weniger Sätze, die mit Ännie und den Anwesenden wenig bis nichts zu tun haben. Später kommt noch die junge Kathie hinzu, ehemals Ännies Mitschülerin und Freundin, die der verschwundenen nymphomanische Besessenheit bescheinigt und damit den diversen Theorien über Ännie noch eine ausgefallene hinzufügt.

Cornelius Schwalm, Jana Zöll, Karin Klein

Diese kleine Gruppe dreht sich während der gesamten Aufführung im Kreis und lädt dabei die eigenen Ängste und Vorurteile jeweils auf die anderen ab. Dadurch entwickeln sich beliebig viele Anlässe zum handfesten Streit, der mal verbal, mal tätlich ausgetragen wird. Natürlich kann Romy ihre kühle Abgeklärtheit angesichts der teilweise hanebüchenen Vermutungen über Ännies Verbleib nicht beibehalten und durchläuft alle emotionalen Stadien vom Schreien übers Weinen bis hin zum betäubenden Quicky mit Fred hinter dem Vorhang. Dann raubt sie dem selbstgerechten Fassbender die Illusion seiner Vaterschaft, indem sie vor allen Ohren Fred als Ännies Vater entlarvt. Da jedoch Hauke – mit welchem Wissen auch immer – Fred diese Vaterschaft abspricht, prügeln sich die beiden nach allen Regeln der Kunst, wobei das halbe Mobiliar zu Bruch geht. Dazu singt Herr Fassbender – ein Höhepunkt des Absurden – einen Evergreen von Elvis Presley, den ja so manche Internet-Foren auch heute noch für lebendig halten. Ähnliche, von der Kernhandlung vollständig abgekoppelte Gesangseinlagen bieten Hauke und Heike im Stil von „Klein-Las-Vegas“. Einen weiteren Ausflug nach Absurdistan unternehmen Fred und Hauke, ersterer als Larve, letzterer als Schmetterling (mit Flügel) kostümiert, wobei sie auf einer zweiten Bühne mit weiß bewölktem blauen Himmel absurde Stabreime zitieren.

Dann wieder schwingt sich Frau Fassbender auf die Las-Vegas-Bühne und zitiert französische Linksintellektuelle wie Derrida („Der Irre da“), Deleuze und Bourdieu, womit sie ihren Mann parodieren und provozieren will. Die spät hinzugekommene Kathi (Anabel Möbius) mischt alle auf, da sie als junge Mädchen natürlich alle Älteren für spießig und überholt hält. Dabei weiß sie ihre Reize durchaus einzusetzen, aber nur, um die Männer dann bloßzustellen oder Frau Fassbenders Eifersucht anzustacheln. Und immer, wenn der absurde Irrsinn der Gespräche – wenn man die Dialoge denn so nennen darf – mal pausiert, ertönt aus der Musikbox eine (Ännies?) verzerrte Stimme mit einschlägigen Drohungen gegen die Vertreter und Nutznießer des kapitalistischen Systems. Man kann diese geheimnisvolle Stimme durchaus als die inneren Stimmen der Beteiligten interpretieren, die genau davor Angst haben.

Anabel Möbius; Hintergrund: Jana Zöll, Ute Fiedler, Karin Klein, Cornelius Schwalm

Auch vor Kalauern aller Art macht das Stück unter der Regie von Maria Viktoria Linke nicht halt. Neben einigen verbalen Augendrehern ist da vor allem die Geburtstagstorte zu nennen, in die Romy genussvoll und gleich mehrmals Frau Fassbenders Kopf stößt. Auch die Prügelei zwischen Fred und Hauke entbehrt nicht ganz dieser Elemente schlichten Spaßes, aber das ist jedenfalls insofern gut gemacht, als die Schlägerei im Stile alter Schwarz-Weiß-Filme und in Zeitlupe geradezu zelebriert wird. Das gilt auch für die musikalischen Einlagen, die jedes Mal als Parodie auf historische Pop-Idole und -Lieder daherkommen und damit durchaus Heiterkeit auslösen.

Wenn es am Ende an der Tür klingelt, denken alle an Ännie, aber dann erlischt das Licht. So werden wir nie wissen, ob Ännie tot, Terroristin oder verlorene (und zurückgekehrte) Tochter ist. Wir haben nur viel über eine paranoide, aggressive und von Vorurteilen gehetzte Gesellschaft erfahren, die zwar deutsche Namen trägt, aber jedes europäische Land wiederspiegeln könnte. Allerdings reichen auch die absurden Ausflüge und temporeichen Gesangs- und Prügeleinlagen nicht ganz, die fehlende Konsistenz und unklare Aussage auszugleichen. Das absurde Theater erfüllte einst eine kulturhistorische Funktion, die sich so nicht wiederholen lässt. Absurde Versatzstücke allein können den roten Faden eines Theaterstücks nicht vollständig ersetzen.

Dieser Schwäche des Stücks zum trotz tun die Darsteller alles, um ihm Witz und Leben einzuhauchen, und das gelingt ihnen über lange Strecken auch ganz gut.

Frank Raudszus

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