Chris Kraus: „Das kalte Blut“

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Aus welcher Perspektive schreibt man einen Roman über das Dritte Reich? Am einfachsten aus der Sicht der Opfer, da man hier nie falsch liegen kann und sowohl Mitleid als auch gerechte Empörung wecken kann. Dagegen ist die Täter-Perspektive wesentlich gefährlicher, weil sich der Autor der Gefahr aussetzt, seine Täter psychologisch zu hinterfragen und dabei zwangsläufig ein zu „menschliches“ Bild von ihnen zu zeichnen. Jonathan Little hat dies in vielen Kritiken zu seinem Buch „Die Wohlgesinnten“ erfahren, und auch Oliver Hirschbiegel musste sich eben diese Kritik für seinen Film „Der Untergang“ über die letzten Tage Adolf Hitlers gefallen lassen.

Chris Kraus, Jahrgang 1963 und damit selbst in keiner Weise vom Dritten Reich und der unmittelbaren Nachkriegszeit berührt, hat jedoch in seinem Roman den Mut aufgebracht, die Zeit aus der Sicht zweier Männer zu schildern, die den Krieg als aktive SS-Offiziere erlebt haben und danach ähnliche Karrieren eingeschlagen haben. Der Roman ist eindeutig gesellschaftskritisch angelegt – nicht nur dem Dritten Reich, sondern auch den Jahrzehnten danach bis zur Zeit der Rahmenhandlung in den siebziger Jahren gegenüber. Dennoch hält Kraus die Erzählperspektive durch, die das ganze Leben in einer Rückblende eines der beiden Brüder abspult.

Die Söhne eines Kunstmalers und einer standesbewussten Baronesse geraten bereits 1918 in die Mühlen der Revolution und verlieren bereits als Kinder beinahe ihr Leben. Später fliehen sie vor den Bolschewisten und schließen sich deutschnationalen und frühen Nationalsozialisten an. Der jüngere Bruder und Ich-Erzähler ist eigentlich unpolitisch und betätigt sich als erfolgloser Maler, bis sein ehrgeiziger älterer Bruder ihn gezielt in die aufsteigende „Bewegung“ hineinholt. Schon hier wird deutlich, wie der Autor mit dem Problem der Täter-Perspektive fertig wird: er wählt Grimmelhausens Ansatz, indem er seinen Protagonisten wie einen naiven Schelm darstellt, der mitschwimmt und im Grunde nicht versteht, was vor sich geht. Das martialische Auftreten der Nazis nimmt er nicht ernst und versucht nur, irgendwie durch die schwierigen Zeiten zu kommen, während sein Bruder alles für beide regelt.

Das Paar wird durch eine Adoptivschwester zum Dreieck erweitert, die sich später als auf diese Weise gerettete Jüdin erweist und ausgerechnet den eigenen (älteren) Bruder und SS-Offizier heiratet. Natürlich ist der Ich-Erzähler seit Kinderzeiten in sie verliebt, aber er ist halt nur der „kleine Bruder“. Im Krieg nimmt die Handlung dramatische Formen an, denn der ältere Bruder Hubert macht rasche Karriere als SS-Offizier und ist bald verantwortlich für die „Sondereinheiten“, die hinter der Truppe die eroberten Gebieten von den Juden „säuberten“. Dabei kommt es zu einem geradezu makabren Höhepunkt, wenn die Mitglieder des Erschießungspelotons fordern, dass auch die Mitglieder der Verwaltung, wo sich der Ich-Erzähler erfolgreich versteckt hat, ihren Beitrag bei einer Massenexekution leisten. Der Autor meistert diese schwierige Szene ohne falsche Apologetik oder gar einen „deus ex machina“, der den Protagonisten vor dieser Handlung bewahrt, sondern lässt seine Hauptperson tief in den Abgrund persönlicher Schuld blicken.

Wie Grimmelhausens Simplicissimus überleben auch die Hauptpersonen trotz ihrer SS-Karrieren den Zweiten Weltkrieg lebend, und auch die Adoptivschwester wird nicht als Jüdin entlarvt, weil der Ich-Erzähler entsprechende Dokumente gefälscht hat. Statt einer Entnazifizierung oder gar langer Haftstrafen landen sie wegen ihrer Erfahrungen bei der Gestapo und der SS schnell wieder in anderen Geheimdiensten wie der gleich nach dem Krieg gegründeten „Organisation Gehlen“ unter dem gleichnamigen Nazi-General, der alte Nazi-Größen aus dem Reichssicherheitshauptamt um sich sammelt und zusammen mit der CIA gleich nach dem Krieg dubiose Aktionen startet.

Der Ich-Erzähler beginnt eine so unfreiwillige wie erfolgreiche Karriere als Doppelagent, da ihn der KGB mit dem Leben seiner russischen Geliebten und ehemaligen Sowjet-Agentin erpresst. Einmal im Strudel der Geheimdienste, kann Koja, so der Kosename des Ich-Erzählers, sich nicht mehr daraus befreien. Kaum endet die KGB-Affäre Mitte der fünfziger Jahre, tragisch aber von seinem deutschen Arbeitgeber unbemerkt, schickt die nun zum BND avancierte Organisation Gehlen ausgerechnet ihn, den einstigen SS-Offizier und vermeintlichen Juden, als Verbindungsoffizier zum israelischen Mossad, wo er aus Überzeugung umgehend zum Doppelagent wird und dem Mossad detailliert über den Aufstieg ehemaliger Nazi-Größen in den westdeutschen Geheimdiensten berichtet.

Frei nach dem alten Sprichwort, dass der zum Brunnen gehende Krug einmal bricht, kommen am Schluss alle Täuschungen und Doppelfunktionen heraus, und damit löst sich auch das Rätsel des Beginns, der Koja Mitte der Siebziger Jahre mit einer Kugel im Kopf in einem Münchner Krankenhaus vorfindet. Dort erzählt er einem schwer am Kopf verletzten und nur zeitweilig freiwillig zuhörenden Hippie und Pseudo-Buddhisten sein Leben, weil er fühlt, dass er vor seinem nahenden Tod vor irgendjemandem seine aufgehäuften Schuldgefühle loswerden muss. Diesen Hippie kann man als Kojas naives und daher besseres „alter ego“ verstehen, denn er selbst hat seine „Simplicissimus“-Naivität im Laufe der Jahrzehnte längst verloren und sie durch eine bittere, am Schluss verzweifelte Ironie ersetzt. Seine moralisch zumindest fragwürdigen Aktivitäten hat er stets zum Schutz eines geliebten Menschen begonnen, sei es die russische Geliebte oder seine im wahrsten Sinne des Wortes geliebte Schwester. Natürlich galt dieser Beschützerinstinkt auch immer seinen erotischen Beziehungen zu diesen Frauen. Der Tod des Hippes am Ende des Buches lässt sich metaphorisch als der endgültige Tod des eigenen „alter egos“ verstehen.

Chris Kraus hat in diesem wortmächtigen Roman mehrere Ebenen verarbeitet. Da ist einmal die Biographie der beiden Brüder und ihrer Adoptivschwester sowie der anderen Familienmitglieder. Hier scheint ein Stück Geschichte der Baltendeutschen über das aktuelle Geschichtliche des 20. Jahrhundert auf. Außerdem verdichtet der Autor hier die allzumenschlichen, vor allem erotischen Aspekte einer Familiengeschichte. Die zweite Ebene betrifft die historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts von den Aufständen der Russen gegen das Zarenreich über den Ersten Weltkrieg und die bolschewistische Revolution in die Zwischenkriegszeit bis zum Erstarken der nationalsozialistischen Bewegung. Die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges schildert der Autor aus der Sicht eines SS-Sonderkommandos und die Nachkriegszeit mit der geradezu zynischen Wiederkehr alter Nazi-Kader vor allem in den Geheimdiensten kann er nur noch mit einer geradezu verzweifelten Ironie schildern, die er seinem Protagonisten in den Mund legt. Dieser muss mehr oder minder machtlos zusehen, wie sich die Täter der Nazizeit nicht nur wieder in wichtige Positionen hieven, sondern sich mit politischem Zynismus erster Güte auch Straflosigkeit zuschanzen.

Auf der dritten Ebene beschreibt der Autor detailliert und desillusioniert die Welt der Geheimdienste nach dem Krieg. Hier gelten weder moralische noch ethische Grundsätze, sondern nur die möglichst effiziente Umsetzung der eigenen, nationalen (und persönlichen) Interessen. Dabei ist die Arbeit des Mossad noch überlagert von einer so ausgeprägten wie verständlichen emotionalen Energie, die sich logischerweise in kaltblütig geplanten Racheakten entlädt. Da eine Entlarvung eines Geheimagenten dessen – im Westen zumindest gesellschaftlichen – Tod bedeutet, ist dessen erpresserische Umwandlung zum Doppelagenten eine logische Folge. Auch der Protagonist Koja kann sich diesem ehernen Gesetz nicht entziehen und scheitert daran, auch wenn er am Ende nur einen seelischen Tod erleidet, den er mit der bereits erwähnten verzweifelten Ironie im Gewand des Galgenhumors kaschiert.

Chris Kraus hat mit diesem Roman nicht nur ein Buch verfasst, das man mit Spannung bis zur letzten Seite liest. Er schafft es auch, die Menschen mit ihrer ganzen bitteren Vergangenheit und Schuld nie als Abziehbilder des Bösen darzustellen, sondern ihnen trotz aller persönlicher Schuld ihre menschliche Würde zu erhalten. Vor allem in der mehrfach gebrochenen Figur des Ich-Erzählers schimmert statt auktorialer Beckmesserei stets die Frage durch, ob wir Nachgeborenen es denn besser gemacht hätten. Kraus schafft es, Täter und Verräter als schuldig werdende Menschen darzustellen, ohne deswegen in billige Apologetik zu verfallen.

Ein Problem bei historischen Romanen mit Personen der Zeitgeschichte ist stets die Anordnung der Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion. Kraus löst dieses Problem, indem er alle historischen Personen – etwa Reinhard Gehlen – so nahe wie möglich am Dokumentarischen ausrichtet und sowohl auf Bagatellisierung wie auch auf polemische Anklage verzichtet. Selbst die fiktiven Gespräche mit seinen Romanpersonen bleiben im Rahmen des sachlich Wahrscheinlichen, ohne in gewagte Spekulationen abzugleiten. Verschwörungstheorien sind seine Sachen nicht, obwohl man in Unkenntnis der Hintergründe etwa der „Großen Strafrechtsreform“ oder des Seitenwechsels von BND-Chef Otto John bisweilen eben dies vermuten würde. Zu unwahrscheinlich  – weil geradezu kriminell – scheinen die wahren Abläufe vieler in den Medien der sechziger und siebziger Jahre ganz anders dargestellter Ereignisse. Doch Kraus verweist in seiner ausführlichen „Danksagung“ am Ende des Buches auf eine Reihe von Quellen, die all seinen hier romanhaft geschilderten Ereignissen einen hohen Wahrheitsgehalt zuweisen.

Wer die Nachkriegszeit bis weit in die sozialliberale Koalition verstehen will, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Er oder sie wird es erst nach vollständiger Lektüre wieder weglegen. Es ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 1187 Seiten und kostet 32 Euro.

Frank Raudszus

 

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