Spannung zwischen Klassik und Moderne

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Das 4. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt bot gleich mehrere Besonderheiten: zum Einen trat der jungen Star-Pianist Kit Armstrong als Solist mit Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 auf, zum Anderen dirigierte Hans Drewanz, langjähriger GMD und heutiger Ehrendirigent des Staatsorchesters, ein umfangreiches Programm. Dieser Umstand ist deshalb zu betonen, weil Hans Drewanz im Dezember 2017 seinen 88. Geburtstag feierte. Davon bemerkte man – abgesehen von den weißen Haaren – an diesem Sonntag Morgen nichts, denn Hans Drewanz meisterte die auch physischen Herausforderungen eines zweieinhalbstündigen Programms äußerlich ohne Probleme und hielt auch die musikalische Spannung bis zum letzten Akkord aufrecht.

Dirigent Hans Drewanz

Dabei hätte er es sich leicht machen können mit leichten Stücken der Klassik, wie sie gerne bei Matinées gespielt werden. Doch nicht so Hans Drewanz. Nicht nur bestand er auf einem Weltklasse-Pianisten wie Kit Armstrong als Solisten, der natürlich allein durch sein Können die höchsten Anforderungen an Orchester und Dirigent stellt, sondern er wählte als Abschluss des Konzerts auch ein so anspruchsvollen Stück wie Prokofjews 5. Sinfonie, die sowohl für Orchester wie für Zuhörer wahrlich keine leichte Kost ist.

Doch am Beginn stand eine eher überschaubare Aufgabe: die Interpretation von Joseph Haydns Sinfonie Nr. 99 in Es-Dur. Nach einigen kleineren Unebenheiten in den ersten Takten fand das Orchester schnell zu seiner gewohnten Form und servierte den ersten Satz auf straffe, temperamentvolle Weise. Der zweite Satz begann ausgesprochen getragen aber dicht, wurde dann jedoch zunehmend lebhaft und geradezu drängender. Der dritte Satz überzeugte durch seine exakte, akzentuierte Rhythmik und entwickelte sich zu einem zeitweise tänzerischen Frage- und Antwortspiel zwischen verschiedenen Instrumentengruppen. Der Finalsatz begann fein, schlank und hoch konzentriert, ging dann nach einem deutlichen Ritardando in ein ausgedehntes, abschließendes Crescendo über. Hans Drewanz arbeitete zusammen mit dem Orchester die unterschiedlichen Charakteristiken der einzelnen Sätze deutlich heraus. Man erkennt an dieser Sinfonie jedoch auch den grundlegenden Unterschied zu Mozart, der mit seinen letzten Sinfonien die Welt der ausgewogenen und immer noch einem Unterhaltungszweck dienenden Sinfonien Haydns hinter sich gelassen hatte. Obwohl Haydn Mozarts Genie mehr als anerkannte, blieb er, einer anderen Generation angehörend, seinem frühklassischen Stil weitgehend treu.

Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 ist in der düsteren Tonart d-Moll gehalten, in der auch die Ouvertüre zu „Don Giovanni“ steht. So nimmt es auch nicht wunder, dass die ersten Takte des Orchestervorspiels ihren Schatten auf die Oper voran werfen. Man fühlt sich trotz der umgekehrten zeitlichen Entstehungsgeschichte bei diesem Vorspiel an „Don Giovanni“ erinnert. Der noch junge Kit Armstrong – Jahrgang 1992 – hielt von Beginn an engen Blickkontakt zum Dirigenten und zum Orchester, als wolle er die Interpretation aus dem Orchester heraussaugen. Nur wenn die technischen Anforderungen zu hoch wurden, senkte er den Blick auf die Tasten. Die Kadenz des ersten Satzes trug er geradezu nachdenklich vor, und betonte dabei den fugenartigen Charakter, die ausgeprägte Mehrstimmigkeit und die ausgeprägte Vielfalt der motivischen Variationen. Im zweiten Satz brillierte Armstrong vor allem durch seinen variablen Anschlag, der ohne jede falsche Gefühligkeit ein Höchstmaß an Dichte und Intensität selbst in den lyrischsten Passagen erreicht. Dabei entstand ein perfektes Zusammenspiel mit dem Orchester, das von Beginn an als vollwertiger Partner des Solisten auftrat und damit die musikalische Spannung und Dichte noch erhöhte. Den dritten Satz leitete ein kurzes, stürmisches Solo des Klaviers ein, dem ein längeres, fast dramatisches Zwischenspiel des Orchesters folgte. Hervorzuheben sind hier die geradezu plastisch herausgearbeiteten motivischen Strukturen im Wechselspiel von Solist und Orchester. In der Kadenz des Finalsatzes konnte Armstrong dann noch einmal seine ganzes virtuoses Können beweisen, ohne dieses jedoch auch nur einen Augenblick lang zum Selbstzweck werden zu lassen. Mal akkordisch, mal linear, chromatisch auf- und absteigend bewegte sich diese außerordentlich dichte Kadenz durch alle musikalischen Klang- und Harmoniefelder, bis sie schließlich in das gemeinsame Finale mündete.

Der Pianist Kit Armstrong

Neben Armstrongs perfekter Technik und Virtuosität beeindruckte vor allem sein musikalisches Gespür für die Eigenschaften jedes einzelnen melodischen, harmonischen oder rhythmischen Motivs dieses Konzerts, das sich deutlich von der Welt herkömmlicher Klavierkonzerte mit ihren überschaubaren Strukturen absetzt. Man kann über diese komplexe Vielfalt kluge Abhandlungen lesen, erfassen tut man sie jedoch erst, wenn ein begnadeter Pianist wie Kit Armstrong sie transparent gestaltet und in alle ihren Details hörbar macht. Das Publikum folgte diesem Konzert mit atemloser Spannung und blieb bis zum letzten Akkord im Bann dieser Interpretation. Der begeisterte Beifall führte dann noch zu einer – leider kurzen – Zugabe in Gestalt eines Choralvorspiels von Johann Sebastian Bach.

Nach der Pause kam dann der schwere Teil auf Publikum und Orchester zu: die ausgedehnte und klanglich anspruchsvolle 5. Sinfonie von Sergej Prokofjew aus dem Jahr 1944. Der spätromantische Beginn erinnert von ferne an Gustav Mahler und Anton Bruckner ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass Prokofjew im Jahr 1944 in der Sowjetunion nicht so avantgardistisch komponieren konnte, wie er vielleicht gerne gewollt hätte. Die Tonalität erinnert an beide erwähnten Komponisten, bewegt sich über lange Passagen in den aus dem späten 19. Jahrhundert gewohnten harmonischen Feldern und wagt sich nur in expressiven Phasen an reibende oder gar dissonante Klangfarben.

Die weit ausladende motivische Geste ist – ebenso wie bei den Spätromantikern – typisch für diese Sinfonie. Sie ist zwar meist gemeint als nach innen zeigende Geste, als wolle sich der Komponist mit den imaginären Händen das Herz und alle Emotionen aus der Brust reißen. Sie kann jedoch auch leicht auf andere Weise (miss)verstanden werden, wenn man sie als weit ausholende und nach außen weisendes Zeichen der Größe und der Macht deutet. So wie die Nationalsozialisten Wagners Musik in diesem Sinne gedeutet haben, konnten auch die sowjetischen Kulturzensoren darin eine pathetische Beschreibung der Größe Sowjetrusslands sehen. Das wiederum ermöglichte Prokofjew das kulturelle Überleben in der Sowjetunion. Der zweite Satz lebt von seinem Jagdcharakter im schnellen 8/8- oder 6/8-Takt und trägt zeitweise Züge eines Volksfestes (Sieg über Deutschland?). Die Blechbläser liefern dazu Partien, die in ihrer ostianten Wieerholung fast schon an „minimal music“ erinnern. Das Adagio des dritten Satzes führt in düstere, tiefe Abgründe, aus denen sich zuerst die Holzbläser mit einem hoffnungsvollem Thema erheben. Auch diese Passagen kann man als musikalische Analogie zur historischen Situation deuten. Die langen, intensiven Bögen vor allem der Streicher verströmen dann den Durchhaltewillen und die Macht des Volkes.  Der vierte Satz musste dann schließlich – aus politischen Gründen! – den Sieg feiern. Nach langsamem, introvertiertem Beginn und elegischen Streicherbögen schwingt sich die Musik zu  lebhafteren Bewegungen auf und geht über in schillernde Klangflächen ohne ausgeprägte motivische Schwerpunkte, bis sie in einem geradezu wilden Finale endet.

Natürlich kann man alle diese musikalisch verarbeiteten Emotionen als Allegorien auf den „vaterländischen Krieg“, das Leiden und den finalen Triumph der Sowjetunion deuten, man kann es aber auch als die Widerspiegelung inneren Verzweiflung, Depressionen und schließlich als wilde Hoffnung auf eine bessere Zukunft sehen. Prokofjew musste zumindest die erste Deutungsvariante plausibel machen, die zweite blieb ihm und der Nachwelt überlassen.

Das Orchester schwang sich bei diesem schwierigen und schweren Werk noch einmal zu interpretatorischen und klanglichen Höhepunkten empor, und der anscheinend alterslose Hans Drewanz hielt bis zum Schluss mit scheinbarer Leichtigkeit alle Fäden in der Hand und die Spannung hoch.

Das Publikum dankte es ihm und dem Orchester mit lang anhaltendem Beifall.

Frank Raudszus

 

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