Erika Fatland: „Sowjetistan“

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Die norwegische Journalistin Erika Fatland reist alleine durch das von ihr so benannte „Sowjetistan“, dass die ehemals zur Sowjetunion gehörigen Länder Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Usbekistan umfasst. Sie versucht, alte Traditionen der ursprünglichen Bevölkerung aufzuspüren, und betrachtet mit kritischem Blick, was die Sowjets diesen Ländern angetan haben.

Die kommunistische Planwirtschaft hat Millionen von Menschen brutal umgesiedelt, Nomadenvölker zur Sesshaftigkeit gezwungen und Raubbau an der Natur begangen. Eines der schlimmsten Beispiele ist die Zerstörung des Aralsees in Kasachstan. Der Aralsee war der viertgrößte Binnensee der Erde – 428 km lang und 234 km breit – und bedeckte eine Fläche von 68.000 Quadratkilometern. Heute ist er auf zehn Prozent seiner ursprünglichen Fläche geschrumpft. In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts leiteten die sowjetischen Behörden das Wasser der großen Zuflüsse Amudarja und Sydarja in Kanäle, um Baumwollplantagen mit Wasser zu versorgen. Eine Baumwollproduktion im industriellen Maßstab sollte die Sowjetunion autark machen. Die Baumwolle erschien den Regierenden lohnender als der Fischreichtum des Sees. Heute ist die Landschaft rund um den See zerstört und der Boden der Baumwollplantagen ausgelaugt.

Fatland berichtet auch von archaischen Sitten wie den Brautraub in Kirgisistan. Die jungen Frauen werden auf der Straße überwältigt, entführt und zu der Hochzeit mit dem Räuber gezwungen. Die Methode funktioniert, denn mit der Geburt des ersten Kindes fügen sich die meisten Frauen in ihr Schicksal. Der archaische Brauch ist heute zwar offiziell verboten, wird aber in der Praxis immer noch praktiziert. Wir empfinden diesen Brauch heute als frauenverachtend und grausam.

Auch die „Adlermänner“ wirken heute wie aus der Zeit gefallen. Vor der Sowjetzeit waren die traditionell nomadischen zentralasiatischen Völker völlig anders organisiert. Da wurden in Kirgisistan noch mit Königsadlern Füchse, Wölfe und Kaninchen gejagt. Das Fleisch wurde gegessen und die Felle zu Kleidung verarbeitet. Die sowjetische Führung hielt das Leben der Nomaden für ineffizient und primitiv und schaffte es fast gänzlich ab. Erst seit Gorbatschov haben sich einige Kirgisen wieder auf die alte Tradition zurückbesonnen. Die heute tätigen Adlermänner dienen aber eher touristischen zwecken.

Ganz Zentralasien ist ein „melting pot“ verschiedener Nationalitäten, Kulturen, Sprachen, Traditionen und Geschichten. Im Jahr 1944 siedelte Stalin 230.000 Menschen – sie sogenannten „Krimtataren“ – von der Krim nach Zentralasien um. Heute leben noch etwa 30.000 Tataren in Kirgisistan. auf 8.500 Deutsche aus dem Wolgagebiet und der Gegend um das Schwarze Meer wurden hierher umgesiedelt.

Das lesenswerte Sachbuch von Erika Fatland ist gespickt mit Fakten aus der vorsowjetischen, der sowjetischen und der heutigen Zeit. Es gibt einen vielschichtigen Überblick über die ursprünglich gewachsenen Strukturen der verschiedenen asiatischen Völker, ihre Umstrukturierung in der Sowjetunion und den heutigen Zustand. Vielleicht bekommt der ein oder andere Leser sogar Lust, diese Länder selbst zu bereisen. Zu entdecken gibt es dort – abseits vom Massentourismus – noch sehr viel. Bewundernswert ist übrigens auch, dass eine Frau diese strapaziöse und durchaus nicht ungefährliche Reise ganz alleine unternommen hat.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 502 Seiten und kostet 16,95 Euro.

Barbara Raudszus

 

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