Uwe Wittstock: „Karl Marx beim Barbier“

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Bis kurz vor dem Ende dieses Buches fragt man sich als Leser, wie denn der Titel „Karl Marx beim Barbier“ zu deuten ist. Denn bis zu diesem Punkt berichtet der Autor von keinem einzigen Barbierbesuch. Sollte das rein metaphorisch oder gar enigmatisch gemeint sein? Dann jedoch geht er in Algier doch zum Barbier und lässt sich Haare und Bart drastisch stutzen. Die heutige Öffentlichkeit kennt ihn nicht in dieser neuen Aufmachung, der Autor jedoch zieht aus dieser geradezu plötzlichen Entscheidung Schlüsse, die sowohl mit dem Werk des Protagonisten als auch mit der intellektuellen Entwicklung seiner Zeit zu tun haben.

Die langen Jahre im feuchten London und die ungesunde Lebensweise – intensive Arbeit und miserable finanzielle Verhältnisse – haben Karl Marx krank gemacht, so dass ihm sein Arzt einen längeren Aufenthalt im vermeintlich angenehmeren Klima von Algier verordnet. Dort verbringt der gerade erst verwitwete Marx einige Monate, um seine stark angegriffenen Atemwege auszukurieren. Dass ausgerechnet in diesem Frühjahr dort eine nasskalte Witterung mit viel Wind herrschen würde, während in London ein richtiger Frühling herrschte, konnte niemand ahnen.

Der Aufenthalt in der Pension Victoria erinnert ein wenig an Thomas Manns „Zauberberg“, vielleicht sogar beabsichtigt? Die unübersehbar resignativen Wochen eines alternden und kranken Mannes in einer vermeintlichen Heilstätte werden unterbrochen durch Rückblenden auf sein privates wie wissenschaftliches Leben.

Der Autor schildert Marx´ Herkunft aus einem typischen Aufsteiger-Familie. Vater Heinrich Marx hatte sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet und wünschte sich für seinen begabten Sohn eine (groß)bürgerliche Karriere. Der zeigte auch hohe Intelligenz und Durchsetzungskraft, jedoch nicht in einem bürgerlichen Studium oder gar Beruf, sondern hatte sich der Welterkenntnis und – veränderung verschrieben. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, so lange um die schöne und brillante Jenny aus gutem Elternhaus zu werben, bis sie den mittellosen Studenten heiratete. Fortan mussten sich Dritte um den Fortbestand der Familie kümmern, denn Marx sah es nicht als seine Aufgabe, die finanzielle Basis für seine Familie durch bezahlte Arbeit zu sichern. Seine Begabung und sein unermüdlicher Fleiß galten nur seinen Arbeiten zur Theorie und den materiellen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft. Marx´Ausspruch, man müsse Hegel „vom Kopf auf die Füße stellen“, gewinnt aus der Perspektive dieses Buches doppelte Bedeutung: zum Einen meinte Marx damit, dass Hegels Behauptung, das Bewusstsein bestimme das Sein, die Realität auf den Kopf stelle, und dass man diese Weltsicht um 180 Grad drehen müsse; zum Anderen jedoch steckt darin eine weitere Metapher von Kopf und Füßen: Hegel habe die Welt mit dem Kopf erfasst, während sie tatsächlich tagtäglich mit den Füßen auf dem Boden der materiellen Tatsachen erfahren werden müsse.

Wittstock zeigt Marx als einen zutiefst widersprüchlichen Menschen, der die unterdrückten Klassen – die Proletarier – befreien will, für seine eigene Familie jedoch weder Sorge trägt noch Empathie empfindet. Wenn eines seiner Kinder an Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung stirbt, bemitleidet er mehr sich selbst als leidenden Vater als das gestorbene Kind oder die viel mehr und still leidende Mutter, geschweige denn, dass er die Schuld bei sich sucht. Tief in ihm ist die felsenfeste Überzeugung verankert, dass die Gesellschaft ein so begnadetes Genie wie ihn entsprechend zu versorgen habe. Dass genau dies schließlich der aus großbürgerlichen Kreisen stammende Freund Friedrich Engels mit selbstloser Großzügigkeit tut, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit, die natürlich nichts mit seinen penetranten und kaum misszuverstehenden Bettelbriefen zu tun hat. Und wenn Marx dann schließlich das lange erwartete und von der Mutter mehrfach vorzeitig eingeforderte Erbe erhält oder andere Geldzuwendungen erfährt, dann pflegt er in schöner Selbstverständlichkeit einen großbürgerlichen Lebensstil, der nicht nur seinen Theorien zum Proletariat, zur Bourgeoisie und zur geradezu zwangsläufigen Revolution widerspricht

Wittstock beschreibt diesen widersprüchlichen Lebenslauf ohne jeglichen denunziatorischen Zungenschlag. Es gelingt ihm, die intellektuellen und politisch-theoretischen Stärken des Karl Marx in eine Balance mit seinen persönlichen Schwächen und Eigenarten zu bringen. Dazu bedarf es keiner eingehender Analyse seiner theoretischen Schriften, sondern nur einer schlaglichtartigen Beleuchtung der gesellschaftlichen und ökonomischen Zustände des mittleren 19. Jahrhunderts sowie des damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes. Wittstock arbeitet die wichtigsten Widersprüche im „Kapital“ heraus, ohne daraus eine Generalabrechnung mit Marx zu machen. Dessen Irrtümer liegen für ihn einerseits in dem begrenzten wissenschaftlichen Möglichkeiten seiner Zeit und andererseits in der eher geschichtsphilosophisch zu begründenden deterministischen Weltsicht seines Jahrhunderts. Auch Marx war felsenfest davon überzeugt, dass sich die Geschichte nach einem zwingenden logischen Gesetz weiterentwickeln musste – in seinem Fall der sich selbst zugrunde richtende Kapitalismus und die Revolution des Proletariats.

Doch hier kommt dann anschließend einerseits die Realität, andererseits die Geschichte mit dem titelgebenden Barbier zu ihrem Auftritt. Schon während der letzten Lebensjahre von Karl Marx entstanden neue Wirtschaftstheorien, die nicht nur seinen deterministischen, sondern auch den Warenwert-Theorien widersprachen und das Gesetz von Angebot und Nachfrage ins Spiel brachten. Wittstock glaubt, dass Marx diesen Gegenwind gespürt und vielleicht im tiefsten Inneren die Schwächen seiner Theorien erkannt hat. Der plötzliche Entschluss, seinen „Prophetenbart“ und die dazugehörige Mähne stutzen zu lassen, können Wittstock zufolge durchaus als stilles Eingeständnis eines Irrtums eines gewertet werden. Die ironischen brieflichen Bemerkungen des so kräftig Geschorenen könnten nicht nur der Frisur und der Rasur, sondern darüber hinaus auch metaphorisch seinem politischen Werk gegolten haben. Doch das ist eine Spekulation, wenn auch eine durchaus ernst zu nehmende.

Wittstocks Buch wird das Marx-Bild auf keiner der beiden Seiten erschüttern, doch es fügt diesem Bild einige persönliche und auch kritische Facetten hinzu. Das Buch ist im Blessing-Verlag erschienen, umfasst einschließlich Register 287 Seiten und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

 

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