Vom Skandal zum Publikumsliebling

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Als Igor Strawinsky – Innovator und „enfant terrible“ der europäischen Musikszene – im Jahr 1913 sein Ballett „Le sacre du printemps“ in Paris vorstellte, kam es zu einem der größten Theaterskandale des Jahrhunderts. Zu kompromisslos und zupackend kam seine Musik daher, zu weit entfernte sie sich vom „Wohlklang“, den man vor allem von der Ballettmusik erwartete. Dass sich Männer während der Aufführung prügelten und sich gegenseitig zum Duell forderten, dass Frauen reihenweise in Ohmacht fielen, erscheint uns heute eher grotesk, war damals jedoch bitterer Ernst. Hört man heute Strawinskys Musik, bleibt immer noch eine Ahnung von dem Aufruhr, den sie damals verursacht hat. Genau wie Beethoven und Mozart zu ihrer Zeit verstörte er mit seiner avantgardistischen Musik ein Publikum, dessen Rezeptionsverhalten eindeutig überfordert war. Nur bestand das Publikum bei seinen älteren Kollegen aus den kleinen Hofzirkeln, die eh nicht besonders an der Musik selbst interessiert waren und die Komponisten gegebenenfalls durch gesellschaftliche Ächtung ins Abseits stellen konnten. Anfang des 20. Jahrhunderts reichte diese Reaktion nicht mehr, man musste zu stärkeren Mitteln greifen, um dem Frust über die enttäuschte Erwartungshaltung Luft zu machen. Die Berliner Staatsoper „Unter den Linden“ hat Strawinskys Ballettmusiken zu „Der Feuervogel“ und „Le sacre du printemps“ (Das Frühlingsopfer) in einem gemeinsamen Ballettabend zusammengefasst. Die Musikfassung des 1910 erstmals aufgeführten „Feuervogels“ stammt dabei aus dem Jahr 1945, die zum „Sacre“ aus dem Jahr 1947. Uwe Scholz verantwortet die Choreographie für den „Feuervogel“, Angelin Preljocaj für das „Sacre“. Die Staatskapelle Berlin spielt unter der Leitung von Julien Salemkour.

Rainer Krenstetter als Feuervogel

„Der Feuervogel“ nimmt ein altes russisches Märchen auf, bei dem ein Prinz einen Feuervogel fängt und ihn erst gegen ein Pfand wieder freilässt. Als er eine Prinzessin retten will, die sich in der Gefangenschaft eines Menschenfressers befindet, ruft er den Vogel zur Hilfe, der ihm die „Achillesferse“ des Ungeheuers verrät: ein Ei, in dem seine Seele ruht. Der Prinz zerschlägt das Ei, das Ungeheuer stirbt, und der Prinz kann seine Prinzessin in die Armen schließen. Noch weniger als bei Opern spielt die Handlung bei Ballett-Choreographien eine Rolle. Sie gibt nur eine Folie für den Ausdruckstanz, der die Emotionen der handelnden Figuren aus der Musik in Bewegung umsetzt. Die Choreographie von Uwe Scholz stellt – wie sollte es anders sein – den Feuervogel in den Mittelpunkt. Rainer Krenstetter tanzt ihn mit rot gefärbten Haaren, roter Hose und ebenfalls rot gefärbtem Oberkörper. Auf ihn konzentriert sich das Geschehen, selbst in Szenen, in denen er nicht selbst auftritt. Zu Strawinskys erstaunlich tonaler und über lange Strecken sogar eingängiger Musik lässt er den Vogel in langen Bewegungen durch den Bühnenraum schweben, so dass der eher zurückgenommene Prinz von Ibrahim Önal in seiner Erdverbundenheit gegen ihn fast steif wirkt. Martin Buczko muss als Ungeheuer Katschej in Rockerkleidung nur minimale tänzerische Qualitäten zeigen und beschränkt sich auf mimische und gestische Zeichen der Brutalität, die Prinzessin kommt gleich als gesamtes Tänzerinnen-Ensemble daher, aus dem die „Solo-Prinzessin“ nur kurz zwecks szenischer Eindeutigkeit hervortritt. Großartige Soloauftritte sind für diese Rolle nicht vorgesehen. Dafür kann Katschej noch mit einem zu ihm passenden Gefolge an Angst einflößenden Gestalten aufwarten, die dem Prinzen und der Prinzessin in Gestalt von gut einem halben Dutzend Tänzern in grellgrünen Motorrad-Kostümen und doppelgesichtigen Vollmasken auflauern.

Aufgrund der märchenhaften Geschichte, der eindeutigen Verteilung von Gut und Böse und des schließlichen Siegs des Guten darf man annehmen, dass diese Choreographie bereits 1910 gut beim Publikum ankam. Die keineswegs provokante Musik trug ein übriges zu diesem Erfolg bei. Und doch liegen Welten zwischen seiner Ballettmusik und der eines Tschaikowskys mit „Schwanensee“ und „Nussknacker“. Strawinskys Musik erzählt keine Geschichten mehr, will sagen: sie lebt nicht mehr vom Effekt wiedererkennbarer Themen und Motive, sie ist nur noch Motiv. Vom Beginn bis zum Ende ist sie sich selbst genug, versucht nicht, einen musikalischen „Ausdruck“ zu erschaffen. Diese Konzentration auf innermusikalische Gesetzmäßigkeiten macht es einerseits einem an gängigen Mustern sich ausrichtenden Publikum schwerer, der Musik zu folgen, andererseits dem Choreographen leichter, sich ganz auf die Umsetzung der musikalischen Muster zu konzentrieren und sich nicht an ein vorgegebenes Musik-„Programm“ mit Themen und Wiederholungen halten zu müssen. Wobei der Begriff „leichter“ mit Vorsicht zu genießen ist, da es allemal einfacher ist, sich an ein durchgearbeitetes Musikkonzept zu halten. Strawinskys Musik versucht, das Flüchtige des Märchens zu illustrieren, seine heimliche Mythenwelt hervorzuholen, und die Aufgabe des Choreographen ist es, diese kurzfristig gehobenen Schätze auf der Bühne darzustellen, bevor die Musik verklingt. Und dies gelingt Uwe Scholz in seiner Inszenierung des „Feuervogels“ auf überzeugende Art und Weise, beherrscht doch der Vogel des Rainer Krenstetter den gesamten Bühnenraum wie ein rettender Engel eine heillos zerstrittene Familie. Übertragungen ins Politisch-Aktuelle verkneift er sich, den rettenden Feuervogel und die Vernichtung des Ungeheuers mag jeder nach eigenem Gusto deuten. Scholz und sein Ensemble beschränken sich auf eine möglichst authentische Darstellung des mythischen Märchens, und das gelingt ihnen auf überzeugende Weise.

Das Ballett „Le sacre du printemps“ bringt ein mythisches Ritual aus dem alten Russland auf die Bühne. Jedes Jahr zu Frühlingsbeginn müssen die Götter durch die Opferung einer jungen Frau gnädig gestimmt werden. Strawinsky geht hier gegenüber dem „Feuervogel“ den entscheidenden Schritt weiter und verzichtet auf jegliche Zugeständnisse gegenüber einem auf „Schönheit“ – was immer das sein mag – abonnierten Publikum. Radikal setzt er das Dunkle, Geheimnisvolle und Furchterregende in seiner Musik um. Grelle harmonische und rhythmische Ausbrüche prägen diese Musik, die bereits des Expressionismus der Nachkriegszeit vorwegnimmt. Die Choreographie beginnt auf der Bühne bereits vor dem Einsetzen der Musik, wenn die sechs Tänzerinnen eine nach der anderen langsam vortreten und unter ihren Röcken langsam den Slip bis auf die Waden hinab lassen. Ein deutliches Fruchtbarkeitssymbol und auffordernde Geste an die Männer, dargestellt durch sechs hingelagerte Tänzer. Langsam entwickelt sich zur einsetzenden Musik das Spiel um eine triebhafte Erotik. Die Männer umschwirren die Frauen, nähern sich ihnen, tanzen mit ihnen. Langsam aber stetig werden sie drängender, aggressiver, und das Ganze endet in einer richtiggehenden Massenvergewaltigung – aus heutiger Sicht. Und doch war es offensichtlich ein fest eingebundener Bestandteil der uralten Fruchtbarkeitsmythen, und die Mädchen erholen sich auch bald von der Orgie. Nun wählen sie aus ihrer Mitte – zusammen mit den Männern – das Opfer des Tages aus, kreisen es ein, verfolgen es über die ganze Bühne und werfen es schließlich auf die vorbereitete Opferstätte. Die so Auserwählte weiß um ihr Schicksal und wehrt sich anfangs nach Kräften, nur um aus dem Abwehrkampf nahezu nahtlos in einen ekstatischen Opfertanz überzugehen. Heute würde man solchen Opfern das Paradies versprechen, damals hat die Magie des Rituals gereicht, vielleicht unterstützt durch eine spezielle Naturdroge. Das Besondere dieser Apotheose – nichts anderes stellt dieser finale Opfertanz dar – besteht darin, dass sich die Tänzerin sämtlicher Kleidung entledigt und vollständig nackt im Licht der Scheinwerfer tanzt. Man kennt ein solches Bild eher aus einem anderen Ambiente, doch die Choreographie von Angelin Preljocaj schafft es, dieser ausgedehnten Szene jede ungewollte Schlüpfrigkeit zu nehmen. Selbst die in keiner Weise eingeschränkten Tanzschritte wirken nie peinlich oder gar obszön sondern vermitteln den Eindruck einer urtümlichen Ekstase. Wenn die Tänzerin nach den letzten, leise verklingenden Tönen des Orchester zusammenbricht, hört man nur noch ihren schweren Atem.

Tanz aus dem „Sacre du printemps“

Man kann sich angesichts der geradezu triebhaften und dunkel drohenden Musik vorstellen, dass dieses Ballett 1913 auch ohne nackte Darstellerin zum Skandal werden konnte. Alles, was die bürgerliche Gesellschaft in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg unter Konventionen und Masken der vermeintlichen Wohlanständigkeit und Doppelmoral vergraben hatte, brach hier unversehens mit geradezu urtümlicher Kraft ausgerechnet auf einer öffentlichen Bühne aus. Das konnten die von den rasanten gesellschaftlichen Umbrüchen überforderten, mühsam um Contenance bemühten Egos des Jahrzehnte anhaltenden „fin de siècle“ schwerlich verkraften. Insofern war der Ausbruch des Pariser Premierenpublikums eine Vorwegnahme des nahenden Kriegsausbruchs in Kleinformat. Strawinskys Musik bringt die Befindlichkeit der damaligen europäischen Welt auf den Punkt: pulsierende, vorwärts treibende Akkorde in den unteren Streicherlagen, dazu die Schläge der Pauken und die betörenden Motive der Holzbläser. Alle diese Zutaten schaffen einen archaischen, urtümlichen musikalischen Raum der menschlichen Triebkräfte, denen keine Ratio widerstehen kann. Mit der zunehmenden Dichte und Triebhaftigkeit des Geschehens auf der Bühne steigert sich auch die Musik in einen mythischen Rausch, der schließlich nur noch in einer Apotheose enden kann. Musik und Tanz steigern sich dabei gegenseitig bis zum finalen Kulminationspunkt. Die Choreographie setzt das Rituelle dieses heidnischen – was bedeutet schon dieses abwertende Kunstwort des hochmütigen Christentums? – Opferfestes mit zwingender Konsequenz in einen sowohl wilden wie auch jederzeit kontrollierten Ausdruckstanz um. Jede Bewegung sitzt, und die Tänzer und Tänzerinnen drücken in ihren Figuren die elementare Kraft des ungezügelten Eros aus. Folgerichtig mündet diese erotische Kraft in einem mehr oder minder symbolischen Tod, hier der Auserwählten.

Das Orchester der Staatskapelle Berlin interpretiert Strawinskys Musik in mitreißender Form, wenn denn dieses Adjektiv in diesem Kontext erlaubt ist. Oder sollte man eher sagen in „furchterregender“ Form, denn genau das ist, es was die Musik erzeugt: (Ehr-)Furcht vor einer unerklärlichen, übermächtigen Kraft, die aus den Tiefen des Menschen aufsteigt und letzten Endes sein Überleben als Gattung sichert. Dirigent Julien Salemkour arbeitet die einzelnen Stimmen klar heraus und konturiert die Dynamik dieser außergewöhnlichen Musik konsequent und kompromisslos. Wie aus einem Guss präsentiert sich dieses Orchester und wird damit zum gleichwertigen Partner des Ensembles auf der Bühne.

Auch eineinhalb Jahre nach der Premiere im Herbst 2004 löste diese Choreographie beim ausverkauften Haus noch einhelligen Jubel und sogar begeisterte „Bravo“-Rufe aus. Die Beteiligten hatten sich diesen Beifall redlich verdient.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Staatsoper Berlin

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