Ian McEwan: „Honig“

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Ein Vexierspiel um Realität und Fiktion

Serena Froame, Tochter eines anglikanischen Bischofs, wächst in den fünfziger Jahren im Schatten der Kathedrale einer englischen Kleinstadt auf. Sie erlebt eine behütete Kindheit in einem freundlichen, kultivierten Elternhaus voller Bücher. Ihr Vater ist gläubig, drängt aber seiner Tochter seine Religiosität nicht auf und mischt sich nicht allzusehr in ihr Leben ein.

In den späten sechziger Jahren erfährt Serenas Leben in der Teenager-Zeit eine neue Leichtigkeit mit Petting, Nikotin und Alkohol, und sogar ein wenig Haschisch probiert sie. Dennoch bleibt sie ziemlich brav und lernt gleichzeitig für die Schule. Könnte sie frei entscheiden, würde sie sich für ein gemächliches Englisch-Studium an einer kleinen Universität entscheiden. Sie liest mit Begeisterung englische Romane – zwei bis drei pro Woche – und stellt sich das Studium als Fortsetzung ihres normalen Lebens und ihrer Lektüre vor. Doch Serena hat die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. Diese hat nämlich die mathematische Begabung ihrer Tochter erkannt, ist selbst auf dem Emanzipationstrip und meint, es sei Serenas Pflicht, nach Cambridge zu gehen und Mathematik zu studieren. Sie soll ihre Begabung später nutzen und Karriere als Physikerin oder Ingenieurin in der Wirtschaft machen. Unterstützung holt sich die Mutter bei ihrem Mann, dem Schuldirektor und etlichen Lehrern, so dass Serena kaum noch ausweichen kann.

Gleich im ersten Semester wird ihr klar, dass sie ein kleines Licht unter ihren Kommilitonen ist. Dennoch zieht sie das Studium ohne große Motivation oder Freude durch und erreicht mit Mühe den Abschluss. Das schnelle Lesen gibt sie jedoch nicht auf. Im Gegenteil, es hilft ihr, nicht allzuviel über Mathematik nachdenken zu müssen. Am liebsten liest Serena in Liebsromanen, wie sich Menschen ver- und entlieben, und wenn am Ende der Protagonist sagt „Heirate mich“, ist das für sie das Schönste. Ihr Leben basiert auf konventionellen und traditionellen Vorstellungen.

Da sie hübsch und attraktiv ist, hat sie einige Liebesaffären und wird schließlich in den siebziger Jahren vom englischen Geheimdienst MI5 angestellt. Ihre Aufgabe besteht darin, Schriftsteller zu rekrutieren, deren politische Grundhaltung pro-westlich orientiert ist. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, und der MI5 versucht auf diesem Weg, die „richtige“ Gesinnung im eigenen Land publik zu machen. Autoren, die systemtreue Literatur publizieren, werden finanziell unterstützt. Das ganze Projekt ist selbstverständlich streng geheim und trägt den Codenamen „Honig“.

Serena schafft es recht schnell, einen Autor ins Boot zu holen, der mit seinem ersten Roman sogar noch einen sensationellen Erfolg erzielt. Doch weder MI5 noch Serena haben damit gerechnet, dass Menschen manchmal andere Wege gehen als geplant. Die junge, schöne Spionin verliebt sich in den von ihr gelenkten Autor, und damit laufen Plan und Affäre komplett aus dem Ruder.

Ian McEwan denkt sich meisterhaft in die Nöte und Sehnsüchte seiner Protagonisten ein. Er begleitet den Aufbau ihrer ausgeklügelten Strategien mit einem diskret süffisanten Schmunzeln, da sie nicht aufgehen können – oder doch?

Ian McEwans Roman  „Honig“ ist im Diogenes-Verlag unter der ISBN 978-3-257-06874-0 erschienen, umfasst 459 Seiten und kostet 24,90 €.

Barbara Raudszus

 

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