Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt zeigen Lutz Hübners satire „Frau Müller muss weg“

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Amoklauf der Helikopter-Eltern

Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt zeigen Lutz Hübners Satire „Frau Müller muss weg“

Uwe Zerwer (Patrick Jeskow, Ingenieur), Karin Klein (Marina Jeskow, Übersetzerin), Gabriele Drechsel (Katja Grabowski, Museumspädagogin), Christina Kühnreich (Jessica Höfel, Verwaltungsbeamtin), Andreas Vögler (Wolf Haider, Ex-Fernmeldetechniker), Stephanie Theiß (Sabine Müller, Grundschullehrerin)Lutz Hübner ist der meistgespielte zeitgenössische Autor an deutschen Theatern und auch am Staatstheater Darmstadt durchaus präsent (siehe links). In seinen Theaterstücken greift er jeweils ein aktuelles Thema auf und seziert es nach allen Regeln der – meist satirischen – Kunst. Das im Jahr 2010 entstandene Stück trägt die Gattungsbezeichnung „Komödie“, ist jedoch eigentlich eine Satire, denn viel Komödiantisches entdeckt man hier nicht, obwohl der Premierenabend vor allem in der ersten Hälfte viele spontane Lacher brachte. Die waren aber wohl eher dem Wiedererkennungseffekt als der Komik zu verdanken. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, die Komödie spiegele grundsätzlich den – sowieso absurden – Alltag und sei daher per definitionem „komisch“, aber es gibt dabei durchaus auch Unterschiede. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es Hübner bei diesem Stück nicht auf die komische Wirkung ankam. Er hat sie höchstens als willkommenen „Kollateralnutzen“ einkalkuliert.

Uwe Zerwer (Patrick Jeskow, Ingenieur), Karin Klein (Marina Jeskow, Übersetzerin), Gabriele Drechsel (Katja Grabowski, Museumspädagogin), Christina Kühnreich (Jessica Höfel, Verwaltungsbeamtin), Andreas Vögler (Wolf Haider, Ex-Fernmeldetechniker), Stephanie Theiß (Sabine Müller, Grundschullehrerin)

Der gut neunzigminütige Einakter spielt in einer einzigen Bühnenumgebung, einem Klassenzimmer. Dazu haben Judith Kuhnert (Regie und Bühne) und Nora Johanna Gromer (Bühne) eine bewusst schlichte Pressspanwand mit Tür aufgebaut, womit sie nicht nur die Bühne zur beengten Kampfzone einengen sondern auch subtil den traurigen Zustand deutscher Schulen darstellen. Drei Tische mit je zwei Stühlen und ein Lehrertisch mit Stuhl vervollständigen das Mobiliar.

Durch die Tür zieht eine Gruppe aus fünf Personen ein, die das Aggressionspotential von Koalitionären vor der Vergabe der Posten verströmen. Allen voran die Elternsprecherin Jessica (Christina Kühnreich), die sofort das Wort ergreift und es sich für einige Zeit nicht entreißen lässt. Sie hat eine Unterschriftenaktiom gestartet mit dem Ziel, die Klassenlehrerin der Klasse 4b, Frau Müller, abzulösen, da sie pädagogisch überfordert sei und die Klasse nicht im Griff habe. Mit ihr kommen zu dem mit eben dieser Frau Müller vereinbarten Gespräch die Museumspädagogin Katja (Gabriele Drechsel), der arbeitslose Fernmeldetechniker Wolf (Andreas Vögler) sowie das Ehepaar Patrick und Marina, Ingenieur und Übersetzerin (Uwe Zerwer und Karin Klein). Lutz Hübner hat die Rollen bewusst bis hin zu den Berufen konturiert, um einerseits bestimmte Archetypen zu unterscheiden und andererseits die Beliebigkeit generischer Typen zu verhindern, die jeder von sich weisen kann.

Karin Klein (Marina Jeskow, Übersetzerin), Andreas Vögler (Wolf Haider, Ex-Fernmeldetechniker), Christina Kühnreich (Jessica Höfel, Verwaltungsbeamtin), Uwe Zerwer (Patrick Jeskow, Ingenieur), Gabriele Drechsel (Katja Grabowski, Museumspädagogin)Die einzelnen Charaktere schälen sich bereits in den ersten Minuten heraus. Jessica ist als Verwaltungsbeamte in einem Ministerialbüro offensichtlich Intrigen und Machtspiele gewohnt und kopiert – anfangs erfolgreich – das, was sie täglich in ihrem verwaltungspolitischen Beruf erlebt. Wolf kommt als Aggressionsbündel daher und kann seine beruflichen Frustrationen nur mühsam verbergen. Er reagiert von Beginn an cholerisch und wirkt wie ein Pulverfass, das mit glimmender Zündschnur durch das Klassenzimmer rollt. Katja hält sich eher im Hintergrund, weicht einer klaren Stellungnahme aus und betont, dass sie nur aus Solidarität mit den anderen Eltern gekommen sei, da ihr Sohn zwar Klassenbester sei, sich aber in sich zurückgezogen habe. In einer Art Übersprunghandlung konzerntriert sie sich ganz auf ihr Strickzeug. Patrick zeigt schon durch Kleidung und Körperhaltung seine verklemmte Mentalität. Die Wetterjacke ist bis zum Hals zugeknöpft, er steht mit hängenden Armen unsicher im Raum herum und lässt sich von seiner Frau dirigieren. Diese ist in der Ehe wohl – wie in den meisten Fällen – für die Erziehung zuständig und hat ihn offensichtlich angesichts der kritischen Situation zur Teilnahme verdonnert. Sie selbst zeichnet sich durch die hochtönige Beschwörung von Moral, Kindeswohl, Achtung und Fürsorge aus.

Allen Eltern ist die Sorge um die Schulnoten der Kinder gemein, die kurz vor dem Übergang in eine höhere Schule stehen. Die Klassensituation lässt befürchten, dass einige Kinder, vor allem die der anwesenden Eltern, den Übergang zum Gymnasium nicht schaffen werden. Patrick formuliert dies in einem Wutanfall mit krebsrotem Gesicht mit dem entlarvenden Satz, sein Sohn lande dann am Ende gar in der Realschule. Ein sozialer Absteig ohnegleichen und eine Schande für die Eltern!

Stephanie Theiß (Sabine Müller, Grundschullehrerin), Christina Kühnreich (Jessica Höfel, Verwaltungsbeamtin), Karin Klein (Marina Jeskow, Übersetzerin)Ziel der Gruppe ist es, sich vor dem Eintreffen der Klassenlehrerein noch einmal kurz abzustimmen und die Taktik zu besprechen. Allerdings zeigt sich schon in diesen Minuten, dass die Decke der Solidarität zwischen den Eltern sehr dünn und fadenscheinig ist. Jeder ist im Grunde genommen nur am Fortkommen des eigenen Kindes interessiert und betrachtet die anderen als latente Konkurrenten, vor allem Katja, die Mutter des Klassenbesten. Man neidet ihr die guten Noten ihres Sohnes, ohne das auszusprechen, und sie bietet wegen ihrer Einigelungstaktik keine Angriffsfläche. Doch die unter den Kindern schwelenden Konflikte haben sich längst auf die Eltern übertragen und warten nur auf den passenden Anlass zum offenen Ausbruch.

Der naht denn auch mit der besagten Frau Müller, die – ganz Öko! – fröhlich lächelnd mit Fahrradhelm, Regenumhang und Rucksack durch die Tür tritt. Sofort ziehen sich die Angreifer wie das leibhaftige schlechte Gewissen in die hinterste Ecke des Klassenraumes zurück und formieren sich wie die „sieben Schneider“ hinter Jessica, die irritiert versucht, die forsche Fröhlichkeit der Lehrerin aufzubrechen. Schließlich gelingt es ihr, den Wunsch der Eltern nach Frau Müllers Ablösung ohne einen Anflug von Achtung oder gar Empathie vorzutragen; schließlich sind sie ja im Recht und wollen nur das beste für ihre Kinder! Der Schock sitzt bei Frau Müller tief, doch wider Erwarten bricht sie nicht in Tränen aus oder erstarrt im Schock, sondern schleudert allen Anwesenden die Wahrheit über ihre Kinder ins Gesicht. Dann rauscht sie aus dem Zimmer.

Den weiteren Ablauf des Stückes wollen wir hier nicht weiter ausführen, da wir den Lesern nicht die Spannung rauben sondern sie zu einem Besuch dieses Stücks animieren wollen. Doch die klaren Worte der Lehrerin lassen die dünne Tünche der Solidarität zwischen den Eltern endgültig zerbröckeln, und jetzt geht es zwischen den Eltern zur Sache. Da werden endlich einmal die wahren Meinungen übereinander auf den Tisch gepackt, und der oder die jeweils Angegriffene zahlt mit gleicher Münze zurück. Vermeintliche Gesinnungsgenossen nutzen die Chance für eine Distanzierung oder gar einen Dolchstoß in den Rücken, und selbst das Ehepaar zerstreitet sich vor den Augen und Ohren der anderen restlos, wobei Patrick endlich einmal seinen gesamten Berufs-, Ehe- und Familienfrust aus sich heraussschreit. Als bei der Suche nach der verschwundenen Lehrerin nur noch Wolf und Katja im Raum bleiben, ergibt sich hier auch noch eine hübsch-satirische Pointe, die wir aber nicht verraten wollen.

Die Handlung erfährt dann einen Schub, wenn die Eltern plötzlich feststellen, dass Frau Müller ihren Rucksack vergessen hat, und schon sucht man nach dem Notenheft. Man kann sich vorstellen, was nun folgt. Das fängt an mit der Überwindung eines Rests von Anstand und endet mit innerehelichen Tätlichkeiten. Schließlich ändert sich die Ausgangssituation vollständig und ein schnelles Umdenken ist verlangt, Dabei wirkt Jessica wiederum federführend, doch am Schluss dreht eine unerwartete Schlusspointe wieder alles ins Gegenteil. 

Diese Satire will nicht den deutschen Schulalltag objektiv beurteilen und vor allem keine Aussage über die Qualität von Lehrern treffen. Hier geht es allein um die Eltern, und wenn die Lehrerin am Ende gut wegkommt, so ist das nur auf die Konzentration auf die Eltern zurückzuführen, die als „Helikopter-Eltern“ von morgens bis abends um ihre Kinder herumschwirren, ihnen alle Probleme aus dem Weg räumen wollen und nur ein Ziel kennen: Abitur, Studium und Karriere. Alles darunter ist eine Katastrophe. Diese Mentalität, ja Verbohrtheit vieler Eltern bringt Lutz Hübner gekonnt und mit viel bösem Witz auf den Punkt, und die Schauspieler setzen seine Absichten mit erschreckender Realitätsnähe um. Uwe Zerwer und Karin Klein – auch im „richtigen“ Leben  ein Ehepaar – zerfleischen sich nach allen Regeln der Kunst gegenseitig und geben dabei ein „Remake“ von Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“, Christina Kühnreich ist eine eiskalte Jessica, die ihre Mitmenschen nach Belieben manipuliert und vor sich hertreibt, Andreas Vögler ist ein brodelnder Vulkan aus Frustrationen und Aggressionen und Gabriele Drechsel schließlich eine fast verstörte, lebensängstliche Katja, die mit niemandem Ärger bekommen möchte und bei unerwarteten Hiobsbotschaften zu suizidalen Reaktionen neigt. Am besten kommt noch die Lehrerin weg, der Stephanie Theiß eine angesichts der Situation unerwartete Souveränität verleiht. Ob diese generöse Haltung realistisch ist, sei dahingestellt, aber in diesem Stück geht es schließlich nicht um die Lehrer sondern um die Eltern.

Das Premierenpublikum war begeistert, spendete viel Szenenapplaus sowie Spontanlacher und verabschiedete das gesamte Ensemble mit lang anhaltendem Beifall.

Frank Raudszus

 Alle Fotos © Barbara Aumüller
 

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