Michael Kleeberg: „Vaterjahre“

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Eine minutiöse psychologische Studie in der Form eines kraftvollen Romans.

1501_vaterjahreWarum Michael Kleeberg nicht zu den allgemein bekannten und in aller Munde befindlichen Autoren der Gegenwart gehört, ist nach der Lektüre dieses Romans eigentlich unverständlich. Vielleicht ist er kein begnadeter Selbstvermarkter, oder aber die eher unspektakulären Themen seiner Romane geben nicht genug her für den intellektuellen „small talk“. Wie dem auch sei, in ihm finden wir einen der bedeutendsten deutschsprachigen Romanciers der Gegenwart, der sowohl durch Genauigkeit der Beobachtung als auch durch sprachliche Kraft und poetische Gestaltung seines Stoffes überzeugt.

Ein zentraler Teil seines Werkes bildet die Trilogie um Karlmann Renn, einen zeitgenössischen „Helden“ im gleichen Alter wie der Autor. Das vorliegende Buch ist der zweite Teil der Trilogie und beschreibt die Jahre zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten Lebensjahr – grob: die neunziger Jahre -, den beruflichen Aufstieg und die familiäre Entwicklung, die der Romantitel in gewissem Sinne in den Mittelpunkt rückt.

Bereits das erste Kapitel schlägt in einem langen, dichten und emotional aufgeladenen Monolog die poetischen Eckpfeiler dieses Romans ein. Karlmann alias Kleeberg beschreibt in hymnischen Zeilen ein schlafendes weibliches Wesen, offensichtlich jung, in dem der Leser spontan so etwas wie eine jugendliche Geliebte vermutet. Der Autor muss dies beabsichtigt haben, denn konsequent unterlässt er jeglichen Hinweis auf das Alter der weiblichen Person, auf diese Weise die Phantasie des (männlichen) Lesers in die Irre führend. Die Pointe liefert er dann wirkungsvoll am Schluss dieses Monologs: es handelt sich um eine Liebeserklärung des Protagonisten an seine sechsjährige Tochter.

Man sieht schon hier, dass der Autor über einen subtilen Humor verfügt, der nicht den schnellen Lacher sucht sondern immer wieder auf die menschlichen Schwächen abzielt, jedoch ohne jede Häme. Wenn er die – oftmals typisch männlichen – Eigenarten seines Helden ans Tageslicht bringt, dann hat das stets etwas Komplizenhaftes oder zumindest Verständnisvolles an sich, als wolle Kleeberg sagen: das trifft auf mich ebenso zu wie auf meine Romanperson. Selbst wenn er chauvinistische oder sexistische Anwandlungen seiner Hauptperson schildert, geschieht das nicht mit der Empörung eines über solche Charakterfehler erhabenen Autors, sondern als verzeihende Geste eines guten Freundes.

Karlmann Renn ist in gewisser Weise der Archetypus Mann. Seine Frau stellt einmal  fest, dass sie ihm mit Kunst, Literatur und klassischer Musik nicht kommen könne. Wichtig sind ihm seine wertvolle Uhr, seine – nur diskret zur Schau gestellten – Weinkenntnisse, seine sonntäglichen Fahrradausflüge mit anderen „Männern“ und sein Motorrad, mit dem er sich gerne ein „Easy Rider“-Gefühl verschafft. Er berherrscht auch das Konkurrenzspiel in Männergruppen und sieht sich selbst als Alpha-Männchen.

Obwohl der Titel auf die Familie verweist, stehen der Beruf und das Messen mit anderen Männern – Konkurrenten – im Vordergrund. Man könnte auch das als leise Ironie des Autors betrachten: obwohl es formal um die Kinder und die Frau geht, geht es doch in Wirklichkeit um den Erfolg „draußen im Leben“. Diese Einstellung führt auch zu einer von Karlmanns größten Niederlagen. Sein alter Freund aus Schultagen, aus kleinen Verhältnissen aber sehr fleißig, ist ihm immer ein treuer Gefährte, nicht zuletzt, weil Karlmann, der großbürgerliche Sohn, sich ihm gesellschaftlich überlegen fühlt und daraus sowohl Selbstsicherheit gewinnt als auch eine joviale Zuneigung zu dem Freund hegt. An dem Tag jedoch, als sich herausstellt, dass dieser Freund ausgerechnet bei dem Beratungsunternehmen McKinsey, das gerade Karlmanns Firma auf Effizienz überprüft, als Partner arbeitet, bricht für Karlmann eine Welt zusammen. Sein gesamtes berufliches Koordinatensystem gerät aus den Fugen, und ein hässlicher Neid auf den erfolgreicheren Freund zerfrisst ihn geradezu, den er erst in einer länger dauernden Therapie ablegt.

Diesen Freund beobachtet er auch später weiter, als er selbst Karriere gemacht hat und dicht an dessen Status herangerückt ist, sehr genau. Dessen Aussage, er beneide ihn um seine sicheren Arbeitsplatz bei einem ehrwürdigen Hamburger Handelshaus, während er sich bei McKinsey wie auf einem Schleudersitz fühle, weckt das hintergründige Gefühl einer leisen Schadenfreude, die sich Karlmann halb eingesteht und halb schönredet. Dagegen weckt eine spätere private Tragödie seines Freundes wieder so etwas wie Neid, weil er die als  durchschnittlich empfundene Geradlinigkeit seines eigenen Weges als geradezu kleinbürgerlich wenn nicht spießig empfindet, während das durchlittene Leid seinen Freund adelt.

Der permanente Vergleich mit anderen Männern bringt natürlich auch Erfolgserlebnisse zutage. Sein Schwager, ein Selfmademan und Immobilienmakler, zeigt alle Zeichen des ungebildeten Emporkömmlings, der stets seine materiellen Erfolge nach außen kehrt, gerne anrüchige Witze und Geschichten erzählt und seine Frau betrügt. Wer fühlt sich angesichts eines solchen „Parade-Prolls“ im unmittelbaren Umfeld nicht bestätigt in seiner höheren Bildung und feineren Lebensart!

So geht Kleeberg Stück für Stück durch die Lebensbereiche seines Protagonisten, wie sie das Leben der meisten Männer, zumindest der arrivierten, prägen. Wenn er die einsame Motorradtour seines Helden quer durch Europa mit ihren eher banalen Gefahren und Unannehmlichkeiten von durchnässten Klamotten bis zu versteiften Gliedmaßen schildert, kommt der geradezu unsinnige Männlichkeitswahn auch ohne jegliche Polemik deutlich zum Ausdruck. Ähnliches gilt, wenn Karlmann und sein Busenfreund eine Golfrunde spielen. Zum einen zeigt Kleeberg eine profunde Kenntnis dieses Sports, zum anderen zeigt er die psychologischen Vorgänge, wenn Karlmann zum ersten Mal die Chance eines Sieges gegen den höher talentierten und besseren Freund sieht. Die sportliche Geste, die das Spiel als Freizeitbeschäftigung zu marginalisieren versucht, verdeckt nur mühsam archaische Gefühle wie Neid, Missgunst und Triumph.

Ein anderes Kapitel beschreibt die langen sommerlichen Besuche des jugendlichen Karlmanns bei seinen Verwandten in einem kleinen hessischen Dorf. Hier werden noch einmal die sehr einfachen Verhältnisse der sechziger Jahre und vor allem die Kleinbürgerlichkeit und, ja, Engstirnigkeit weiter Kreise der Bevölkerung deutlich, deren Kommunikation sich auf das Haus und die Dorfkneipe beschränkte und die Fernsehen noch als neumodischen Luxus betrachteten. Auch Karlmann durchläuft jedes Mal der Schauer einer inneren Abwehr, wenn er an die stehengebliebene Zeit in diesem Dorf denkt.

Karlmanns Frau kommt in diesem Roman nur als Frau an seiner Seite und konsequent aus seiner Sicht vor. Nicht, dass Kleeberg ihr eine eigene Individualität verweigert. Nein, er stellt sie als liebenswerte und patente Person dar. Doch ihn interessiert in diesem Roman nicht ihr Innenleben, sondern das des Mannes. Und das bebildert er in diesem Kontext vom ersten Kennenlernen bis zum Schluss mit allen Facetten des männlichen Verhältnisses zu Frauen. Das fängt mit einem jovialen Chauvinismus an, setzt sich fort mit pragmatischem Partnerschaftsdenken und gleitet immer wieder in deutliche sexuelle Phantasien ab. Bei allen diesen psychologischen Verästelungen der männlichen Lebensart und Libido beschreibt Kleeberg die beiden jedoch als glückliches Ehepaar.

Da sieht es mit der angeheirateten Verwandschaft schon anders aus, die allesamt aus der ehemaligen DDR stammt und trotz aller historischen Kalamitäten noch ein strammes linkes Denken pflegt. Kleeberg handelt mit dieser Passage ein Stück jüngerer deutscher Geschichte ab: die unterschiedliche Sozialisierung, die Sprachlosigkeit zwischen den Welten und das bockige Beharren auf den Illusionen sozialistischer Propaganda. Karlmann fühlt sich von diesem durch das Trauma des Identitätsverlustes hervorgerufenen Tunnelblick der Ex-DDRler persönlich in seiner intellektuellen und politischen Würde beleidigt und geht letztlich einer intensiven Auseinandersetzung aus dem Wege.

Am Ende mündet der Roman in zwei große Katastrophen, die der Autor kunstvoll miteinander verwebt. Der vor allen von den Kindern geliebte Golden Retriever der Familie leidet an unheilbarem Krebs und soll an einem schönen Septembertag des Jahres 2001 eingeschläfert werden. Mit diesen bedrückenden Gedanken geht Karlmann morgens ins Büro und verfällt in einen längeren inneren Monolog über das Sterben und die richtige Art zu leben. Eine Ausstellung über umgekommene Rennfahrer lässt ihn dabei zu dem Schluss kommen, dass nur das aus dem vollen schöpfende, den Tod riskierende Leben wert ist, gelebt zu werden, und dass ein von der Vernunft bis ins hohe Greisenalter verlängertes Leben nichts anderes als Feigheit darstellt. In dieser melancholischen Stimmung fällt die Nachricht von dem New Yorker Terrorangriff auf das World Trade Center, und Karlmann muss die Firma binnen Minuten aus einer riskanten spekulativen Situation retten. Doch viel schwerer als diese technisch zu bewältigende Aufgabe ist die, seinen Kindern abends das Einschläfern des Hundes zu erklären. Jedes gesagte Wort scheint ihm zu viel, zu wenig oder falsch, doch am Ende besteht er auch diese Prüfung, ohne dass ihm dies bewusst wird.

Der Autor erscheint in diesem Roman nicht als der unsichtbar über der Handlung stehende Erzähler, sondern mischt sich oft direkt in das Geschehen ein, etwa indem er sich über vermeintliche Beweggründe seines Helden auslässt, in der Zeit vorgreift oder unverkennbare Kommentare zzum Zeitgeschehen abgibt. Das ist jedoch keine Schwäche des Romans sondern ein gestalterisches Prinzip. Indem er über Karlmanns Innenleben spekuliert, begibt er sich in die Position eines Chronisten real existierender Personen. Wer das Buch nur an solchen Stellen aufschlägt, mag glauben, dass es sich hier um eine Biographie handelt. Dieser literarische Trick verdichtet den Roman noch mehr und verleiht ihm den Charakter des Wirklichen, Dokumentarischen.

Das Buch „Vaterjahre“ ist im der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst 500 Seiten und kostet 24,99 €.

Frank Raudszus

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