Die „Neue Bühne Darmstadt“ inszeniert Arthur Schnitzlers szenische Komödie „Der Reigen“

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Rainer Poser und Gabriela Reinitzer
Zehn Szenen über „Vorher“ und „Nachher“

Die „Neue Bühne Darmstadt“ inszeniert Arthur Schnitzlers szenische Komödie „Der Reigen“
Man möchte kaum glauben, dass dieses Stück einst für mehrere veritable Theaterskandale in Deutschland und Österreich gesorgt hat. Heute erhält es Szenenapplaus und viele befreiende Lacher, vor neunzig Jahren jedoch schäumten die Zeitungen über das „Schandstück“, die „geilste Pornographie“ und die „Bordellprologe des Juden Schnitzler“.

Ralph Dillmann und Nicole KleinWorum geht es? Schnitzler hat in dieser losen Szenenfolge die Liebe zwischen Mann und Frau mit allen Konsequenzen in den Mittelpunkt gestellt. Bis auf die letzte Szene gliedern sich alle in ein „Vorher“, das von heißesten Liebesschwüren der Männer geprägt ist, und ein „Nachher“, bei dem die Männer das Liebe heischende Getue der Frauen unwirsch zur Seite wischen und nur noch weg wollen. Obwohl der sogenannte „Akt“ nie gezeigt wird – die Szene wird an einem eindeutigen Punkt abgeblendet – hat allein dieser deutliche Verweis auf die natürlichste Sache der Welt die prüden Gemüter des frühen 20. Jahrhunderts empört.

Nicole Klein und Rainer PoserSchnitzler geht es jedoch nicht nur um das ewige Spiel um Verführen und Verführtwerden, um die Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung, sondern hauptsächlich um die doppelte Moral vor allem der Männer, die es fertigbringen, ausgerechnet die Frauen, die sie verführen, anschließend als minderwertig zu demütigen. Diese Haltung geht durch alle sozialen Schichten, wie das Theaterstück deutlich zeigt. Die Frauen sind zwar die Opfer, doch einige von ihnen können auch recht gut auf der Klaviatur der erotischen Manipulation spielen.
Wie eine Rahmenhandlung steht das älteste Gewerbe der Welt am Anfang und Ende. Zu Beginn gabelt eine junge Straßenprostitierte  einen Soldaten auf, am Ende verpasst ein alternder Graf unter Alkoholeinfluss das „Finale“ im Zimmer derselben Dirne und schläft stattdessen seinen Rausch aus. Ein wenig spannt sich also über diesen Rahmen auch der erotische Lebensbogen mit Anfang und Ende. Dazwischen lässt Schnitzler die Erotik in- und außerhalb der Ehebetten Revue passieren und zeigt dabei beide Seiten der außerehelichen Eskapaden. Dabei ist die Verführung des Stubenmädchens durch eben den Soldaten aus der ersten Szene ein Klassiker, wie man ihn schon aus der Gebrauchsliteratur einer Courths-Mahler kennt, nur deftiger. Der Trieb verleitet den jungen Soldaten zu allen möglichen Schwüren und Komplimenten, doch nachher will er sie nicht einmal mehr nach Hause bringen sondern lieber wieder zum Tanzen gehen. Ähnlich geht es diesem Stubenmädchen mit ihrer Herrschaft. Als die Eltern des „jungen Herrn“ außer Haus sind, läutet dieser mehrmals unter Vorwänden nach ihr, schmeichelt ihr und zieht dann die sich nur schwach Wehrende ins Bett. Anschließend schaut er sie kaum noch an und schützt einen wichtigen Termin vor, um sich ins Kaffeehaus begeben zu können. Das Stubenmädchen ist halt nur verfügbare Ware für ihn.

Seine Liebeschwüre hat der junge Herr schon vergessen, als er sein Heim generalstabsmäßig – einschließlich Parfüm und Cognac – für ein Rendezvous mit einer verheirateten Frau vorbereitet. Als diese tief verschleiert – aus Angst vor Entdeckung – eintritt, schwört sie, nur wenige Minuten zu bleiben, und landet doch dank heißer Liebesschwüre des windigen Galans in seinem Bett, wo er versagt. Seinen anschließenden Erklärungen begegnet sie mit leisem Spott, den er gar nicht bemerkt, und beim zweiten Versuch klappt es. In der folgenden Szene liegt sie im heimatlichen Ehebett, an das der selbstgerecht schwadronierende Ehemann tritt, um die Freuden des Ehelebens zu genießen. Dabei lässt er sich philisterhaft über untreue Ehefrauen aus und legt seiner Frau nahe, den Kontakt mit solchen sittenlosen Frauen zu meiden.
Dagegen blüht dieser sittenstrenge Herr geradezu auf, als er am nächsten Tag eine junge Frau auf der Straße anspricht und sie ins Séparée einlädt. Ihm gelingt es nicht nur – was nicht schwer ist – dieses lebenslustige junge Mädchen zu verführen, sondern sie anschließend auch noch wegen ihres sittenlosen Lebenswandels zu bedauern und künftig von ihr ein (ansonsten) keusches Leben als seine Geliebte zu fordern. Versteht sich von selbst, dass er sie zwar nach existierenden oder ehemaligen Liebhabern ausforscht, aber nichts über deren eventuelle Qualitäten hören will.
In der zweiten Hälfte setzt sich dieser im Grunde genommen gar nicht so lustige erotische Reigen mit anderen Protagonisten fort. Da verführt erst der eitle Dichter das junge Mädchen, schwärmt in selbstgerechter Arroganz von ihrer „herrlichen Einfalt“ und ist dann beleidigt, weil sie seinen Dichternamen noch nie gehört hat. Hier will wieder einer genießen und belehren zugleich und damit Macht ausüben. Auch dieser Dichter beklagt das sittliche Lotterleben der unverheirateten jungen Frauen mit wechselnden Liebhabern, von denen er selbst einer ist. In der Folgeszene gerät er dann jedoch an eine Frau, die ihm mehr als gewachsen ist. Die gefeierte Schauspielerin ist mindestens genauso eitel und egozentrisch wie er, fordert permanent seine Bewunderung ein und spottet gleichzeitig über sein fehlendes Talent als Dichter.
In dieser Szene beginnt sozusagen der Rachefeldzug der Frauen, denn besagte Schauspielerin verführt in der nächsten Szene einen älteren Adligen, der sich als misanthropischen Philosophen inszeniert. Obwohl er eigentlich um ein Rendezvous am späteren Abend bitten wollte, verführt sie ihn im besten Stil eines Mannes „hic et nunc“. Dabei wird schnell klar, dass hinter dieser Verführung eher Kalkül als erotisches Begehren steckt: entweder sie sucht lediglich Bestätigung durch die Eroberung dieses Adligen oder eine sichere Zuflucht für das beginnende Alter. Der adlige Herr jedoch verpasst das zweite Rendezvous und landet stattdessen bei der eingangs erwähnten Prostituierten, die er am nächsten Morgen unverrichteter Dinge wieder verlässt.
Schnitzler führt in diesen zehn Szenen alle Schichten der k.u.k.-Gesellschaft im Zeitraffer vor und legt ihre Scheinheiligkeit und ihre Doppelmoral frei. Vor allem das moralische Philistertum gerade derjenigen, die sich selbst alle Freiheiten nehmen, stößt ihm sauer auf, und die moralische Abwertung gerade der jungen Frauen, die man sich selbst gerne als Geliebte hält, stellt dabei den Höhepunkt der Verlogenheit dar.
Renate Renken hat diese Szenenfolge als fast etwas wehmütigen Rückblick in eine untergegangene Welt inszeniert, in der moralische Gesetze noch etwas galten aber nicht eingehalten wurden. Ein multifunktionales Möbel dient mal als Felsen in den Donau-Auen, dann wieder als Ehe- oder Lotterbett oder gar als verschwiegenes Séparée. In den abgedunkelten Umbaupausen tanzen Paare zu Wiener Kaffeehaus-Musik der Zeit vor 1914.
Das Ensemble der Neuen Bühne setzt die Szenen in gekonnter Weise um. Rainer Poser bringt in der Rolle des selbstgerechten Ehemanns und des jovialen Liebhabers mit sparsamer aber treffsicherer Mimik und Gestik die Eitelkeit und Doppelmoral dieser Figur zum Ausdruck. In der stärksten Szene des Abends, dem Rendezvous mit dem jungen Mädchen nach dem Genuss der ehelichen Pflichten, zieht er alle Register der Charakterdarstellung, und Nicole Klein steuert alle Mittel der weiblichen Darstellungskunst bei, von der reizenden Naivität bis zum flehenden Schmollen. In dieser Szene kommt ein Prickeln auf, das streckenweise den fiktiven Hintergrund der Situation vergessen lässt. Nicole Klein zeigt auch in der Rolle der Prostituierten Leocadia ihr Temperament und ihr Gespür für die Figur.
Gabriela Reinitzer spielt anfangs die untreue Ehefrau, ist aber vor allem als Diva in ihrem Element, die erst mit dem Dichter (Ralph Dillmann) und dann mit dem älteren Adligen – Rainer Poser in abgeklärter Pose – nach Belieben umspringt und sich nach allen Regeln der Kunst selbst inszeniert. Ralph Dillmann überzeugt vor allem in den Szenen als selbstverliebter Dichter. Bianca Weidenbusch spielt das Stubenmädchen, und Jens Hommola den Soldaten. Das Publikum spendete nach jeder Szene kräftigen Beifall und zeigte auch durch viele Lacher Sinn für die allerdings nicht immer lustigen Situationen. Den fortgeschrittenen Zeitgeist erkennt man daran, dass Doppelmoral und Heuchelei eher zum Lachen als zur Empörung reizen. Auch nicht schlecht.
Weitere Aufführungen: bis zum 16. Juni an allen Wochenenden freitags und samstags um 20 Uhr, sonn- und feiertags um 18 Uhr.
Frank Raudszus
 

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