Vielfalt der Körpersprache

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Neben den großen Choreografien bietet das hessische Staatsballett jedes Jahr durch Eigen-Produktionen der Tänzer und Tänzerinnen selbst Einblick in die Arbeit und das Leben der Tanztruppe. Zum Ende dieser Saison schlägt sich dies in den Aufführungen „Startbahn 1“ und „Startbahn 2“ nieder, von denen erstere am 13. Juni Premiere feierte.

Das neunzigminütige Programm besteht aus sechs eigenständigen Choreografien vom Solostück bis zum Gruppentanz. Es beginnt mit dem Solo „Imperfection“ von Peng Chen, der in Sportlerkleidung mit zwei würfelförmigen Boxen in Koffergröße kämpft. Man könnte ihn sich als Paketboten unter Zeitdruck vorstellen, der mit der Auslieferung nicht hinterherkommt und von einem Malheur ins nächste rutscht. Nichts gelingt, und er fällt über die und mit den Boxen, bis er sie schließlich stapelt und sich daraufsetzt. Dazu ertönt ironischerweise Donizettis sehnsüchtige Arie „Una furtiva lagrima“ aus der Oper „Ein Liebestrank“. Trotz akrobatischer Leistungen des Tänzers bleibt die Aussage etwas im Dunkeln.

Produktion „Un-Follow“

Dagegen warten Ramon John und Masayoshi Katori in „through the walls of my heart“ mit einem eindrucksvollen Duett auf, in dem man – ohne vorherige Lektüre des Programmhefts – durchaus die Beziehung von Vater und Sohn oder zweier anderer ungleicher Personen sehen kann. Mal umgarnen sie sich gegenseitig, dann wieder gehen sie auf Distanz, ohne aber auch nur einen Augenblick voneinander loszukommen. Die Bewegungen vermitteln einen intensiven emotionalen Eindruck einer tief gehenden Beziehung, und nach einer kurzen „Generalpause“, die schon wie der Schluss wirkt, geht es in ganz anderem, abgeklärten Stil weiter, so als seien die emotionalen Probleme des ersten Teils gelöst. Auffallend bei dieser Choreografie ist die perfekte Umsetzung der Musik in Körpersprache. und das Programmheft verrät, dass es hier um die Vereinigung zweier gefühlt getrennter Teilen des Ichs geht.

In der dritten Choreografie von Anthony Michael Pucci, „Years of good rain“ tanzen Enzo Boffa und Sayaka Kado einen knapp viertelstündigen Liebestanz zwischen Wassergläsern, wobei das Wasser für Regen und – Leben steht. Dank der perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungen und den fließenden Figuren entsteht nie eine ungewollte erotische Schlagseite, die hier auch nicht beabsichtigt ist. Das Hetero-Paar ist hier weniger als erotische denn als menschliche Metapher zu verstehen.

Nach der Pause stellt Rita Winder ihre Choreografie „Bebi“ vor, in der sie die Geschichte eines Lebens erzählt. Nach einem anfänglichen, intensiven Solo-Tanz in engem Tanzdress zieht sie sich eine lange Hose und ein langes Arbeitskleid über, wie es wohl Frauen in einer fernen Heimat getragen haben können; dazu erklingt die Geräuschkulisse eines fremden Marktes irgendwo in einer fremden Welt, in der man die Heimat der Choreografin vermuten kann. Zu entrückter Musik spielt Rita Winder das Leben dieser fremden Frau nach, lässt sie als Alte mit einem Stuhl als Rollator mühsam krauchen oder wie eine Schlafende oder Sterbende den Kopf fallen lassen. Eine Art Heimweh höherer Ordnung durchzieht diese Choreografie und lässt erahnen, wie schwer es sein kann, sein Leben fern von der Umgebung der Kindheit zu verbringen.

Die fünfte Produktion, „Un-Follow“ von Alessio Damiani, zeigt eine Gruppe von drei Personen, ein Tänzer und zwei Tänzerinnen“, die ihre bürgerlichen Hüllen verlassen und sich in eine neue, unsichere Welt begeben. Besagte Hüllen sind identische, der Mode gehorchende Anzüge, die zwar die Sicherheit, aber auch die Enge der Konformität widerspiegeln. Ohne sie gerät das Leben aus den Fugen, verspricht aber auch Neues. Statt Nähe verspürt man Distanzierung und Ausgrenzung bis zum Erlöschen der eigenen Persönlichkeit, aber es gibt auch dann noch Hoffnung, wenn der Tänzer die scheinbar Tote aufhebt und mit ihr einen zarten Wiederbelebungstanz vollführt.

Zum Schluss liefert die Produktion „Peasants“ von Meilyn Kennedy einen zwölfminütigen, streng geformten Disco-Tanz. Natürlich ist das mehr als „Disco“, aber es erinnert doch ein wenig daran, nur dass die Bewegungen exakt synchronisiert sind und die schwarzen Tanzbodys sowie die Sonnenbrillen eher an eine „Gang“ erinnern. Dieser Gruppengeist spiegelt sich auch in den maskenhaft erstarrten Gesichtszügen wider, die an einschlägige Mafia- oder SF-Filme erinnern. „Matrix“ lässt grüßen, obwohl dahinter ausgerechnet ein Text des achtzehnjährigen Karl Marx über unerfüllte Träume steht. Und während das Publikum auf ein formales Ende des Tanzes wartet, kommt über Lautsprecher die freundliche Ankündigung des Ende, während die Tanzenden weiter ihre Schritte absolvieren…..

Ein gelungener Abend mit vielen neuen Eindrücken und einer erstaunlichen Vielfalt der Körpersprache.

Frank Raudszus

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