Versuch der Umdeutung einer schillernden Person

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Giuseppe Verdis „La Traviata“ im Staatstheater Darmstadt.

Zeitgenössische Inszenierungen von Verdis „La Traviata“ stehen bei einer Aktualisierung des Stoffes immer vor dem Problem der gesellschaftlichen Relevanz des Konfliktes: die gesellschaftliche Außenseiterin Violetta, ihres Zeichens „Kurtisane“, muss auf ihre Liebe zu Alfredo verzichten, weil dieser durch die Beziehung zu ihr das Glück seiner Schwester gefährdet. Im 19. Jahrhundert stellte dieser Sachverhalt durchaus ein ernst zu nehmendes Problem dar, und so ist auch die Reaktion von Alfredos Vater zu verstehen, der um die Heiratschancen seiner Tochter fürchtet. Eingangs des 21. Jahrhunderts jedoch lassen sich diese Verhältnisse nicht mehr glaubwürdig problematisieren. Als aktuelles Beispiel kann die Hochzeit von Prinz Charles und Camilla dienen, einer Dame mit nicht unbedingt dem besten Leumund aus der Sicht des Hochadels und obendrein „bürgerlich“. Was tut man also, wenn man nicht nur Verdis Oper als Repertoirestück und Reminiszenz an die Operngeschichte „abspielen“ will?

Mary Anne Kruger als Violetta

Mary Anne Kruger als Violetta

Philipp Kochheim hat in seiner Darmstädter Inszenierung einen glaubwürdigen Ausweg gefunden. Er verlegt zwar die Handlung in die Gegenwart, lässt aber den Grund für Violettas gesellschaftliche Disqualifikation in gewisser Weise offen. Er vermeidet jeglichen Hinweis auf ihre Arbeit als Prostituierte in der literarischen Vorlage und siedelt Violetta eher in einer Außenseiterrolle zwischen psychisch Kranker und Terroristin an. Das Aufkratzen der Arme, Alkoholismus und paramilitärische Kleidung im letzten Bild lassen darauf schließen, dass Violetta bereits zu Beginn an einer schweren psychischen Störung leidet und sich nach einem kurzen Ausflug in die Sicherheit einer erotischen Bindung nach deren erzwungener Beendigung konsequent aus der Enge der bürgerlichen Welt befreit. Offensichtlich war sie in den Augen der „guten Gesellschaft“ auch vorher schon eine höchst verdächtige, subversive Person und gibt sich angesichts des ultimativen Liebesverlustes und der Krankheit zu erkennen.
Soweit zu der Umdeutung des Konfliktes, der natürlich deswegen nicht notwendigerweise an Schärfe gewinnt. In der Schlüsselszene zwischen Violetta und Alfredos Vater muss dann doch das ursprüngliche Libretto herhalten, das den Konflikt in der gefährdeten Heirat von Alfredos Schwester ansiedelt. Und dieser Konflikt ist nun einmal nur verständlich aus der Sicht des 19. Jahrhunderts. Doch sei´s drum: da auch ein mutiger Regisseur das Libretto nicht beliebig verändern kann, muss das Publikum mit dieser Diskrepanz leben, und in Philipp Kochheims Inszenierung der „Traviata“ lässt es sich gut damit leben.

Die erste Szene erinnert an Sven Väths „Cocoon Club“ in Frankfurt. Eine helle Club-Atmosphäre mit ovalen Wand-Durchbrüchen, in denen sich „Gäste“ räkeln, und großzügige Polsterelemente prägen das Bild. Hier findet das Fest statt, auf dem Alfredo Violetta seine Liebe gesteht, was sie erst amüsiert, später mit wachsender Ernsthaftigkeit zur Kenntnis nimmt. Sie wird Alfredos Geliebte, gibt ihren lockeren Lebensstil in Paris auf, zieht mit ihm aufs Land und verkauft Stück für Stück ihres Vermögens, um ihre Liebe mit Alfredo genießen zu können. Dessen Vater jedoch fordert ihren Verzicht auf ihre Liebe, weil ansonsten Alfredos Schwester nicht wird heiraten können. Unter dem Druck des Vaters und angesichts des offensichtlichen Leids des jungen Mädchens willigt sie ein und verlässt Alfredo unter dem Vorwand, ihn nicht mehr zu lieben. Dieser wirft ihr aus Rache und enttäuschter Liebe bei einem Fest in Paris Geld als „Lohn für geleistete Liebesdienste“ vor die Füße und vollendet damit den Bruch. Im letzten Bild schließlich kommt Alfredo, vom Vater über den wahren Sachverhalt aufgeklärt, zu der mittlerweile todkranken (in der Vorlage die Schwindsucht) Violetta zurück, bittet um Verzeihung, erhält sie und erlebt die letzten Momente der sterbenden Violetta. In Philipp Kochheims Inszenierung entfernt sie sich schließlich nach ihren letzten Worten mit einem allegorischen Tanz, der genauso den Tod als auch eine wie immer geartete, transzendente Befreiung ausdrückt. Die Deutung dieses letzten Bildes bleibt dem Publikum überlassen.

Mary Anne Kruger und Xavier Morena (Alfredo)

Mary Anne Kruger und Xavier Morena (Alfredo)

Das Libretto ist weitgehend auf drei Personen zugeschnitten: Violetta, Alfredo und dessen Vater. Diese drei tragen die sängerische und auch darstellerische Hauptlast, die anderen spielen mehr oder minder periphere Rollen. Diese Fokussierung hat den Vorteil einer hohen Dichte und Intensität, die nicht durch Seitenhandlungen aufgeweicht werden. Wenn man sich einmal auf den Konflikt auch in einer aktualisierten Version eingelassen hat, wirkt dieser glaubwürdig und in sich konsistent. Jede Handlungsentscheidung geht aus der jeweiligen Situation hervor und ist in sich folgerichtig. Das führt zu außerordentlich intensiven Szenen, wobei das Duett zwischen Violetta und Giorgio Germont, dem Vater von Alfredo, zu den stärksten Momenten der Aufführung zählt. Hier stoßen zwei Welten aufeinander, bei denen jeweils die Liebe im Mittelpunkt steht. Giorgio Germont, dargestellt von Tito You, erscheint bei Kochheim nicht als zynischer Vertreter des Großbürgertums, dem es nur um die Reputation seiner Familie geht, sondern als besorgter Vater, der tatsächlich das Glück seiner Tochter dahinschwinden sieht. Kochheim lässt diese Tochter sogar mit ihm zusammen auftreten – Antje Linstädt spielt hier eine stimmlose Rolle – und stellt sie Violetta gegenüber, so dass diese – von Mary Anne Krüger verkörpert – sozusagen konkret die Konsequenzen ihrer Liebe sieht. Und so weicht sie auch nicht dem Druck eines hartherzigen alten Mannes sondern der Verzweiflung eines jungen Mädchens, das noch während der dramatischen Auseinandersetzung zwischen Giorgio und Violetta beginnt, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

Im letzten Bild, nach der öffentlichen Demütigung durch Alfredo, hat sich Violettas Zustand zu einer schweren psychischen Krankheit verschlechtert. Ihr äußeres Erscheinungsbild verweist auf eine bedingungslose Freiheitskämpferin in Kampfausrüstung und damit auf ihre Befreiung von allen bürgerlichen Fesseln. Damit einher geht der Konsum von Alkohol und Drogen, der sie an den Rand des Untergangs bringt. Das Bühnenbild – eine Ansammlung von Umzugskartons – signalisiert Heimat- und Bindungslosigkeit, nichts ist mehr für längere Dauer angelegt, Violetta lebt sozusagen im Übergang. Diese Szene führt zum finalen Höhepunkt zwischen den beiden Liebenden und Violettas Ende, und auch hier kann Mary Anne Kruger ihr ganzes sängerisches und darstellerisches Potential entfalten.

Mary Anne Gruger und Tito You (Giorgio Germont)

Mary Anne Gruger und Tito You (Giorgio Germont)

Die Musik Verdis ist erstaunlich untypisch für den Komponisten, überwiegen hier doch die leisen Töne und die sparsame Orchestrierung. Bereits die Ouvertüre – bei offener und belebter Bühne – zeichnet sich durch leise, ja lyrische Klänge aus, und spätere Arien kommen oft mit nur wenigen Orchester-„Tupfern“ aus, lassen den Sängern extrem viel Raum für die Gestaltung ihrer Partien. Das verleiht der gesamten Inszenierung einen ausgesprochen kammermusikalischen Charakter, was sich angesichts des begrenzten Raumvolumens des Kleinen Hauses geradezu anbietet. Raoul Grüneis, Erster Kapellmeister und zukünftiger GMD am Theater Regensburg, verzichtet auf jeden vordergründigen Effekt – außer, so es angebracht ist – und entlockt dem Orchester dabei eine breite Palette an Klangfärbungen.

Das Ensemble zählt zwar zahlreiche Köpfe, die Handlung und das gesangliche Geschehen konzentrieren sich jedoch auf die drei Protagonisten. Unter ihnen hat Mary Anne Kruger als Violetta die umfangreichste und wohl auch anstrengendste Partie. Sie meisterte die Höhen und Tiefen – sowohl in Violettas Leben als auch in dem Stimmlage – mit Bravour, Leichtigkeit und dem bei ihr wohl bekannten warmen Timbre, das sie auch in hohen Lagen nicht verlässt. Ihre darstellerischen Leistung stand der gesanglichen in nichts nach und brachte dem Publikum die zerrissene Persönlichkeit der Violetta mit großer Eindringlichkeit nahe. Sie erhielt dafür zu Recht den meisten Beifall und viele Bravos. Xavier Moreno als Alfred stand ihr wenig nach und glänzte vor allem durch seinen vollen und modulationsreichen Tenor, während die darstellerische Seite nicht ganz so überzeugend wie bei Mary Anne Kruger ausfiel. Beeindruckend auch Tito You als Giorgio Germont, der dieser Figur nicht nur stimmlich viel Gewicht sondern auch einen sehr differenzierten Charakter verlieh und ihn damit aus der Ecke des alten Zynikers – wie er sonst gerne dargestellt wird -herausholte und ihm menschliche Konturen verlieh. Daneben gefielen Katrin Gerstenberger als Flora im ungewohnten Outfit eines blonden Vamps, Werner Volker Meyer als smarter Baron Douphol, Hans-Joachim Porcher als Dr. Grenvil, Hyeon Kyoo Lee als Annina und Jordi Morena als Alfredos Freund Gastone. Der Chor des Staatstheaters bildete in altbekannter Qualität eine flexible Figurenkulisse bei den verschiedenen Festen auf der Bühne.

In den begeisterten Schlussapplaus mischten sich für die Regie auch einige „Buh“-Rufe, wobei es ein Rätsel bleibt, wogegen diese einsamen Rufer opponierten. Es scheint mittlerweile Mode geworden zu sein, ein obligatorisches Buh gegen die Regisseure und Bühnenbildner zu artikulieren. Die Betroffenen nahmen es mit Gelassenheit.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

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