Horror der Bigotterie

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Man kommt bei diesem Theaterstück nicht darum herum, ihn an der Vorlage – dem gleichnamigen Film von Michael Haneke – zu messen. Das Drehbuch ist sozusagen die einzige literarische Version des Films, und die Theaterversion lehnt sich eng an den Originaltext. Die Ironie dabei liegt in dem Umstand, dass Michael Haneke den Film quasi als Kammerstück mit Theaterflair konzipiert hat: reduzierte Szenen ohne besondere filmische Effekte mit einer deutlichen Fokussierung auf Personen und Dialoge. Das durchaus nicht kleine Personaltableau wird sozusagen „seriell“ in kleinen Personengruppen vorgestellt, unter weitgehendem Verzicht auf größere Gruppen.

Kinderchor des Staatstheaters Darmstadt

Regisseur Christoph Frick geht in Darmstadt genau den entgegengesetzten Weg. Er besetzt die knapp dreißig Rollen mit nur neun Schauspielern, so dass jeder bzw. jede von ihnen etwa drei Rollen spielen muss. Darüber hinaus hat Viva Schmidt ein Bühnenbild geschaffen, das wie ein aseptisches Gefängnis wirkt. Kahle weiße Wände prägen die nach hinten sich konisch verjüngende Bühne, und ein Fensterband an der Rückwand erlaubt einen Ausblick aus diesem hermetisch abgeschlossenen Raum. Die Metapher ist auch für Zuschauer ohne Kenntnis der Handlung unmissverständlich: emotionale Kälte und ein ausgeprägter Reinheitswahn. Konsequenterweise werden die „Insassen“ dieses autoritären Biotops später die Fenster nach außen mit weißer Farbe übermalen. Die überdimensionierten Möbel – ein Tisch und zwei Stühle auf Rollen – symbolisieren die Sicht der Kinder auf die Welt der Erwachsenen.

Der Inhalt ist schnell erzählt: in dem fiktiven norddeutschen Städtchen am Vorabend des ersten Weltkriegs herrschen eiserne Disziplin und Unterdrückung. So wie der Baron die Bauern und die Honoratioren gesellschaftlich beherrscht, herrschen diese über ihre Kinder. Vor allem der protestantische Pfarrer ist geradezu ein Ausbund an bigotter Tugend. Er bestraft nicht nur seine Kinder für kleinste Vergehen mit Liebesentzug und Prügel, sondern demütigt sie auch vor aller Augen durch den Zwang, als Zeichen ihrer Schuld ein weißes Band zu tragen. Der verwitwete Arzt, ebenfalls nach außen ein mustergültiger Bürger, ist keinen Deut besser und unterwirft sich sowohl seine Haushälterin als auch seine eigene Tochter sexuell. Der Gutsverwalter ist ein Choleriker, der seine Söhne schlägt, und die Ehe des Barons steht nur noch auf dem Papier.

Samuel Koch, Karin Klein, Yana Robin la Baume, Mathias Znidarec, Ben-Daniel Jöhnk, Gabriele Drechsel

In diesem angespannten Ambiente ereignen sich seltsame Gewalttätigkeiten: der Arzt stürzt über eine quer über die Straße gespanntes Seil, ein behinderter Junge wird schwer misshandelt, und ein kleines Kind erfriert fast in einem ungeheizten Zimmer. Die Verdachtsmomente richten sich kurzfristig gegen die Pfarrerskinder, doch der Pfarrer – jetzt auf einmal ganz Familienvater! – droht dem den Verdacht äußernden Lehrer mit schwersten Konsequenzen. Die seltsamen Ereignisse bleiben bis zum Schluss ungeklärt, denn hier geht es nicht um eine Kriminalgeschichte, sondern um die exemplarische moralisch-geistige Situation in der Gemeinde. Eine gnadenlose, auf Abschreckung und Strafe beruhende Hierarchie beherrscht das gesamte Gemeinwesen, und die Kinder sind die unterste Ebene dieser Pyramide. Was die Erwachsenen in ihrer Jugend von Eltern und Lehrern erfahren haben, geben sie an ihre eigenen Kinder weiter. Am Ende reicht die Nachricht eines aufgeregten Boten aus der Stadt, in Sarajevo sei der Thronfolger umgebracht worden, für die historische und geistige Einordnung der Geschichte: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist nicht zuletzt das Ergebnis dieser überzogenen preußisch-protestantischen Ethik.

Um den Druck zu verdeutlichen, unter dem alle Mitglieder dieses geradezu beispielhaften Dorfes stehen, lässt Christoph Frick alle Darsteller bis auf wenige Momente auf der Bühne. Damit entfällt auch jeglicher Wechsel von Kostümen, wenn die Darsteller ihre Rollen wechseln. So spielt Karin Klein die Baronin und das Kind Erna in demselben eleganten schwarzen Kleid, und Daniel Scholz gibt den Baron und den verschüchtert-pubertären Sohn des Pfarrers ebenfalls im selben Freizeit-Dress. Wer gerade keine Szene im Vordergrund zu spielen hat, erstarrt im Hintergrund zu einem lebendem Bild, das die vorherige Szene festhält. Die einzelnen Szenen gehen nahtlos ineinander über, so dass die Zuschauer allein aus der (Körper-)Sprache und dem gesprochenen Text entnehmen müssen, welche Rolle die Darsteller gerade spielen. Weder Bühnenbild noch Kostüme kündigen die nächste Szene inhaltlich und mental an.

Ben-Daniel Jöhnk, Jessica Higgins

Diese Art der Inszenierung lässt sich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, weil sie den gesellschaftlichen Druck, der auf den Figuren liegt und sie vorantreibt, in einen dramaturgischen umsetzt, der die Schauspieler von Szene zu Szene treibt, ohne ihnen auch nur einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Doch sie bringt auch Nachteile mit sich. Der seelische Druck, der sich in den konzentrierten und verzögerten Szenen des Filmes mit tödlicher Konsequenz langsam und unerbittlich aufbaut, weicht hier einer psychologischen Hetzjagd, vor der sich niemand in Sicherheit wähnen kann. Gerade die Tatsache, dass auch die in der jeweiligen Szene unbeteiligten Figuren in dem Raum gefangen sind, verstärkt das Gefühl der Unentrinnbarkeit. Das Kalte und Methodische der autoritären Ideologie kommt dabei jedoch weniger zum Ausdruck.

Da die Kinderrollen aus verschiedenen Gründen – Arbeitsrecht? Schwierigkeitsgrad? – ausschließlich von Erwachsenen gespielt werden, hat sich Christoph Frick etwas Anderes einfallen lassen, um die Kinder als solche in den Mittelpunkt zu rücken. Er räumt dem Jugendchor des Staatstheater eine zentrale Rolle ein. Dieser betritt bereits in der ersten Szene die Bühne durch den Zuschauerraum und rahmt die Handlung im Folgenden wie ein griechischer Chor ein. Die deutschen Volkslieder und geistlichen Lieder, die dabei erklingen, sind natürlich als bitter-ironischer Kommentar zu den Vorgängen auf der Bühne zu verstehen. Und wenn der Chor einmal die Bühne verlässt, schauen die Kinder von hinten durch die Fenster auf das Treiben der Erwachsenen, bis die Scheiben unter der weißen Farbe erblinden. Dass die Kinder im letzten Bild – nach der Meldung des Thronfolgermordes – als verdreckte Soldaten aus dem Schlamm des Schützengrabens steigen und sich stumm an der Bühnenrampe aufstellen, ist metaphorisch vielleicht ein wenig zu dick aufgetragen, stellt aber dennoch ein eindrucksvolles Bild dar.

Daniel Scholz, Jessica Higgins, Samuel Koch, Karin Klein, Yana Robin la Baume, Ben-Daniel Jöhnk, Gabriele Drechsel

Bei allem Verständnis für das Konzept der multiplen Rollen sind jedoch einige kritische Anmerkungen angebracht. Einerseits stellt sich die schlechte Akustik des Kleinen Hauses als Problem heraus. Nicht zuletzt die kahlen Wände des weißen Bühnen-Konus´ sorgen für einen Halleffekt, der viele zur Seite oder leise gesprochenen Sätze unverständlich macht. Darüber hinaus erschwerten die schnellen Szenenwechsel bei unverändertem Personaltableau – Kostüme! – das Verständnis der Handlungen. Christoph Frick versucht, viele der Ereignisse, die im Film von einer Person erzählt werden, hier in kurzen Szenen nachzubilden. Doch der fehlende Zusammenhang und die Rätselhaftigkeit der seltsamen Ereignisse lassen die Szenen auseinander fallen in eine Serie bloßer Aggressionen und Repressionen, die im Einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen sind. Der Druck und die Hilflosigkeit der Akteure sowie ihre doppelbödige Moral kommen zwar plastisch zum Ausdruck, doch auf Kosten des auf leisen Sohlen sich zwangsläufig nähernden Unglücks, wie es der Film vorhersagt.

Die Darsteller leisten in dieser Inszenierung Außergewöhnliches. Die schnellen Rollenwechsel meistern sie einschließlich Stimmlage und -ausdruck hervorragend und verleihen der Inszenierung damit eine außerordentliche Dichte und Dynamik. Exemplarisch seien hier nur Yana Robin la Baume (drei Mädchen bzw. Frauen), Daniel Scholz (Baron, Pfarrerssohn) und Ben-Daniel Jönk (u.a. Pfarrer) genannt, ohne damit die Leistung der anderen schmälern zu wollen. Diese drei sind allein durch ihre scharf konturierten Rollen sehr präsent. Jörg Zirnstein muss – mit nur einem Kostüm! – sogar in fünf Rollen schlüpfen und füllt diese glaubwürdig aus, und Jessica Higgins muss in ihren Rollen ausdrucksstark leiden.

Trotz der erwähnten Einschränkungen kann man diese Inszenierung als Erfolg bezeichnen, wobei der Jugendchor unter der Leitung von Elena Beer einen wichtigen Beitrag leistet.

Frank Raudszus

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