Trilogie an einem Abend – eine Gratwanderung

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Man könnte mit Ibsens „Peer Gynt“ problemlos drei Theaterabende füllen, nicht nur wegen der schieren Länge, sondern auch wegen der dreiteiligen Struktur dieses geradezu „faustischen“ Stücks. Doch aus nahe liegenden Gründen – wer schaut sich schon drei Abende lang norwegische Nationalsagen an? – hat die Dramaturgie entschieden, alle drei Teile in einer Inszenierung zusammenzufassen.

Auch mit Streichungen stellt diese Lösung noch hohe Anforderungen an die Geduld und Konzentrationsfähigkeit des Publikums – vom Ensemble ganz zu schweigen -, und so stellt die Inszenierung von Regisseur Axel Richter auch nur partiell zufrieden. Dazu trägt sicher die gereimte Sprache bei, die sich teilweise unfreiwillig der Komik Wilhelm Buschs nähert, aber auch die handlungsarme und symbolbeladene Beschreibung eines menschlichen Lebenslaufes trägt nicht gerade zu Spannung und Dichte bei. Ibsens „Peer Gynt“ lässt sich in gewisser Weise als norwegische Variante von Goethes „Faust“ auffassen; auch hier revoltiert ein Einzelner gegen die Mittelmäßigkeit und Enge des Lebens, erringt den weltlichen Erfolg nur unter persönlicher Schuld und erlangt am Lebensende nur Erlösung durch eine Frau. Das Panorama nordischer Mythen mit Trollen und Märchenfiguren erinnert an Goethes Walpurgisnacht, die Szenen in Marokko und Ägypten an Fausts mythische Reisen im zweiten Teil. Diese Parallelen zeigen, dass alle Völker über dieselben, tief eingegrabenen literarischen Mythen verfügen und diese nur in unterschiedlicher Form verarbeiten.


Sonja Mustoff, Stefan Schuster (Peer I)

Im ersten Teil lernen wir den jungen Peer Gynt kennen, der sich in Verkennung der traurigen Realität – sein Vater hat Haus und Hof versoffen – für etwas Besonderes hält. Er träumt von zukünftigen Heldentaten, einem Palast für sich und seine Mutter, erzählt Lügengeschichte über gefährliche Abenteuer, trinkt, spannt einem Bräutigam die Braut aus und lässt sie dann sitzen. Die aus einem engstirnig-religiösen Elternhaus stammende Solveigh weist ihn anfangs ab, zieht aber später zu ihm ins Gebirge, wohin er sich nach nach der Vertreibung durch die Mitbürger zurückgezogen hat. Und immer wieder fasziniert ihn die Fabelwelt der Trolle, die ihn in seinen Träumen in ihre Welt entführen wollen und seine Vorstellungswelt besetzen. Nach dem Tod der Mutter geht er außer Landes. Im zweiten Teil macht Peer als Geschäftsmann Karriere, jedoch vorwiegend mit Sklavenhandel und anderen illegalen und unmoralischen Geschäften. Als ihm seine Geschäftspartner ein wertvolles Schiff mit all seinem Vermögen rauben, betet er – zum ersten Mal – zu Gott um Rache, und das Schiff sinkt tatsächlich mit Mann und Maus. In einer dantesken Reise zieht er durch die Wüste und verschiedene Ortschaften und lässt sich mit fragwürdigen Frauen ein, die ihm sein restliches Vermögen abnehmen. Im dritten Teil kehrt Peer Gynt alt und verarmt auf einem Schiff nach Hause zurück. Um ihn herum sind nur noch Alte und Kranke. Als das Schiff sinkt, rettet er sich an Land und trifft schließlich die ebenfalls gealterte Solveigh wieder, die zumindest seinem Lebensende noch einmal einen Sinn gibt.

Alle drei Teile durchzieht die Frage, wo Peer Gynt ist: die Trolle erklärten ihm einst den Unterschied zwischen ihnen und den Menschen damit, dass die Trolle immer bei sich seien, während der Mensch immer außerhalb seiner selbst lebe – für Reichtum, Macht oder Sex. Am Ende tritt der Tod auf Peer zu und stellt ihm noch einmal die Frage nach seinem Ort. Wenn er einen Zeugen bringe, sei er gerettet. Als letzte und einzige der verzweifelt von Peer Befragten bestätigt schließlich Solveigh, dass er immer bei sich gewesen sei und für die Liebe gelebt habe. Das „Gerettet“ aus dem Faust muss man sich hier hinzudenken.


Klaus Ziemann, Matthias Kleinert (Peer II)

Axel Richter hat sich für eine sehr handfeste Inszenierung entschieden. Im ersten Teil treten die Figuren als Schüler einer Volksschulklasse des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts auf. Der Ranzen auf dem Rücken und die mehr als biedere Bekleidung – kurze Hosen, wollene Kniestrümpfe – lassen auf ein äußerst engstirniges, spießiges Umfeld schließen. Die bewusst plakative Schulkindkleidung führt, im Zusammenspiel mit der Reimsprache, vor allem bei den älteren Darstellern zu – ungewollten? – komischen Effekten. Das Burleske feiert vor allem in den Trollszenen fröhliche Urständ‘, vor allem angesichts der recht deftigen Sitten dieser geträumten Unterweltgesellschaft. Sämtliche freudianischen Ängste – Fäkal- und Kastrationsphantasien – kommen hier zum Ausdruck. Die nahtlosen Übergange zwischen den Szenen – die Änderung des Handlungsortes wird teilweise nur durch geringfügige Stellungswechsel angedeutet – erschweren zeitweise das Verständnis der Handlung; doch hat man sich einmal entschieden, der reinen Handlungsabfolge einen nur marginalen Wert beizumessen, spielt das keine Rolle mehr.

Im zweiten Teil springt Richter um hundert Jahre in die Jetztzeit. Peer Gynt ist Manager im Maßanzug mit Handy und Laptop und einer Wowereit-Frisur. Seine Adlaten sind stromlinienförmige Karrierehengste, die solange seinen Speichel lecken, bis sich die Chance zum erfolgversprechenden Verrat ergibt. Der zu Beginn dieses Teils arrogant und fast schon größenwahnsinnig auftretende Peer begegnet dem Verrat mit wütendem Trotz und gibt sich anschließend als Lebemann sadomasochistischen Sexualpraktiken hin. Der Genuss bis hin zur blanken Perversion wird zum Programm und lässt Peer moralisch wie menschlich immer tiefer sinken.

Im dritten Teil platziert Richter seine mumienhaften Greise in einem vom Zuschauerraum durch einen Gazevorhang abgetrennten Guckkasten mit bröckelndem Putz an den Wänden, einem Aquarium ähnlich, in dem sich die Fische sinnlos im Kreis bewegen. Die grotesken Greise mümmeln vor sich hin, spielen Karten und hören Peer Gynts endlosen Monologen nicht mehr zu, in denen er nach dem Kern seines vergangenen Lebens fragt. Die Schlüsselszene besteht in der Entblätterung einer Zwiebel, die als Analogie zu Peers Leben viele Schalen aber keinen Kern enthält. Der Tod wartet – eine so treffende wie groteske Metapher – in einem Bett der Intensivstation auf Peer und erhebt sich daraus nur, um ihm die Fragen nach dem Wesen seines Lebens zu stellen. Die Frauen geistern wie alte Nornen durch die Szene, spinnen im wahrsten Sinne des Wortes ihr Garn um den am Sinn seines vertanen Lebens verzweifelnden Peer. Am Ende sitzt Peer Gynt mit der alten Solveigh zusammen vor einem erleuchteten Loch in der Mauer, Zeichen für den Durchgang ins Jenseits.


Gustl Meyer-Fürst (Peer III), Klaus Ziemann

Obwohl die Inszenierung über weite Strecken durchaus den Zauber der nordischen Mythologie und der depressiv angehauchten Sinnsuche skandinavischen Theaters wiedergibt, leidet sie doch unter Längen. Vor allem im ersten Teil, mit Abstrichen jedoch auch in den anderen beiden Teilen, zeichnet sich das Bühnengeschehen durch verbal umreimten Stillstand aus. So manche Szene könnte in sich durchaus kürzer sein, ohne ihren Sinngehalt zu verlieren. Die einzige Rechtfertigung für diese Dehnung der Szenen besteht darin, dass Richter das besondere Zeitgefühl der skandinavischen Länder ausdrücken will, das durch lange Winternächte und graue Wintertage eine schwermütige, bisweilen depressive Färbung erhält. Die gereimte Sprache – eigentlich bereits zu Ibsens Zeit anachronistisch – verstärkt durch ihre metrisch bedingte Retardierung diese Verlangsamung des Geschehens noch. Zeitweise fühlt man sich in die endlosen Verspassagen des „Faust II“ versetzt, nur dass dort die Verse besser sind als bei Ibsen. Man hat in der neuesten Übersetzung zwar immerhin viel aktuelles Wortmaterial eingeführt – auf „böse“ reimt sich hier auch schon mal „M…“ und das mit dem Zischlaut beginnende Umgangswort für Fäkalien kommt ebenfalls nicht zu sparsam vor – und die Schauspieler strecken und stauchen die teilweise doch recht „knittelig“ angelegten Verse soweit möglich zur Metrik der heutigen Umgangssprache, doch es bleibt eine Sprache, die schwer mit heutigem Sprachempfinden zu vereinbaren ist. Diese bieder altertümelnden Reime bei Ibsen sind wohl das größte Hindernis für eine angemessene Rezeption des Stücks durch das heutige Publikum.

Die Darsteller tun ihr Bestes, um aus diesem Stück herauszuholen, was möglich ist, wobei der jeweilige Darsteller von Peer Gynt naturgemäß im Mittelpunkt steht. Im ersten Teil zeigt Stefan Schuster einen frechen und aufmüpfigen Peer in jugendlichen Lederhosen, dem man jedoch durchaus mehr Attribute heutiger Jugendlicher hätte zugestehen können. So bleibt bei Schuster immer ein wenig der Eindruck von abgelebter Jugendbewegung. Großartig dann Matthias Kleinert als zynischer Manager mit kriminellen Qualitäten, der nichts achtet und schätzt außer dem Erfolg selbst. Souverän auch seine Reaktion auf die verrutschte Wowereit-Perücke – war die Ähnlichkeit Programm?? -, die er nach einigen Korrekturversuchen mit dem Ausdruck der Verachtung von sich schleudert, als sei’s vom Text so vorgegeben. Gustl Meyer-Fürst schließlich gibt im letzten Teil einen verknöcherten, den Tod fürchtenden Geizhals, der sich an sein letztes Stück Leben krallt wie ein Bergsteiger an einen Felsvorsprung. In den anderen Rollen überzeugen Sonja Mustoff als Peers Mutter, Diana Wolf als Solveigh und Maika Troscheit als Anitra. Die meisten Darsteller traten dabei in Mehrfachrollen auf, so Matthias Kleinerst noch als Ober-Troll Dovre oder Iris Melamed in verschiedenen Frauenrollen. Es würde jedoch zu weit führen, hier alle Neben- und Mehrfachrollen ausführlich zu würdigen.

Am Ende der über dreistündigen Aufführung zeigten sowohl Darsteller als auch Publikum Ermüdungserscheinungen. Auf der Bühne ließ die Spannung in dem besonders handlungsarmen Schlussteil etwas nach, und das Abonnementspublikum (der Rezensent hat nicht die Premiere gesehen), das schon nach der Pause an Kopfzahl verloren hatte, fand sich nur noch zu einem freundlichen Beifall ohne Höhepunkte bereit. Das war jedoch offensichtlich nicht der mangelnden Qualität der Aufführung sondern der allgemeinen Ermüdung geschuldet.

Frank Raudszus

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