Angela Stent: „Putins Russland“

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Im Jahr 1991 beendete Michail Sergejewitsch Gorbatschow zusammen mit den ehemaligen Bruderstaaten das siebzigjährige Experiment des „real existierenden Sozialismus“ und entließ die meisten der ehemaligen Ostblockstaaten in eine vorerst ungewisse Freiheit. Danach redete (fast) die gesamte Welt über das „Ende der Geschichte“, die „Friedensdividende“ und andere utopische Vorstellungen. Heute, knapp dreißig Jahre später, scheinen die alten Zeiten einer Block-Konfrontation zurückgekehrt, nur unter der Einschränkung, dass der heutige „Ostblock“ von einem stark geschrumpften und wirtschaftlich geschwächten Russland repräsentiert wird und die Argumente dahinter nicht mehr ideologischer, sondern nationalistischer Art sind. Wir konnte es kommen, dass die Friedensträume des Westens nur rund ein Jahrzehnt blühten und danach einer neuen, latenten Kriegsgefahr wichen?

Angela Stent hat in verschiedenen universitären und staatlichen Institutionen der USA intensiv über Russland geforscht sowie die Motive und Absichten der dortigen Akteure zu deuten versucht. Ihre gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse hat sie in diesem Buch zusammengefasst, wobei Putins Rolle aufgrund seiner langen Regierungszeit – de facto von 2000 bis heute – im Mittelpunkt stehen.

Das Buch umfasst dreizehn Kapitel und ist grob chronologisch aufgebaut. Den einführenden Kapiteln über Russlands Geschichte und seine generelle Selbstwahrnehmung folgen eine Reihe von Kapiteln, die das Verhältnis zu jeweils anderen weltpolitischen (Gegen-)Spielern beschreiben. Eine gewisse Redundanz ist wegen der separat betrachteten Entwicklung der Beziehungen unvermeidlich, und außerdem kommen durch diese Einzelbetrachtungen die gegenseitigen Abhängigkeiten im Netz der internationalen Beziehungen etwas zu kurz. Aber für eine Struktur musste sich Stent entscheiden, und eine ständige Schau auf sämtliche Querbeziehungen hätte der Übersichtlichkeit wohl nicht gedient. Die vorliegende Struktur hat außerdem den Vorteil, dass dieses Buch auch als schnelles Nachschlagewerk zu bestimmten politischen Situationen dienen kann, denn Konfliktsituationen entstehen meist mit nur einem oder wenigen Gegenspielern.

Am Anfang steht die Erklärung für Russlands Abkehr vom Westen, nachdem Putin dem irrlichternden „Freund des Westens“ Boris Jelzin 2000 als Präsident nachgefolgt war. Russland fühlte sich schon seit Zarenzeiten immer als etwas Besonderes. Die geographische Ausdehnung – Russland ist 48 mal größer als die Bundesrepublik! – mag dabei eine nicht geringe Rolle spielen. Russland verstand sich nie als „nur“ europäisch, sondern sozusagen „überkontinental“, und schon Zar Peter der Große sah die zivilisatorische und technologische Abhängigkeit von Europa nur als kurzfristiges Phänomen. Im 19. Jahrhundert schaute die russische Oberschicht zwar ebenfalls nach Europa, doch bereits zu dieser Zeit entwickelten sich starke kulturelle Gegenbewegungen, die eine radikale Abkehr vom europäischen „way of life“ forderten.

Diese Haltung wurde durch die Sowjetunion vor allem nach dem siegreichen Zweiten Weltkrieg noch weiter gestärkt, denn nun bewegte sich Russland unter dem neuen Namen auf Augenhöhe mit der anderen Weltmacht, den USA. Vierzig Jahre lang beherrschten zwei Großmächte die Welt, und eine davon war Russland mit seinen Vasallenstaaten. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und des Ostblocks setzte schon kurze Zeit später der „Phantomschmerz“ des Amputierten ein. Vor allem die ehemalige Nomenklatura, die Oberschicht, wurde mit dem Bedeutungsverlust nicht fertig und versuchte in dem Putsch von 1991 erfolglos, alte Zeiten wiederzubeleben. Und so kam Putin, selbst ehemaliger KGB-Offizier, sozusagen an einen ideologisch gedeckten Tisch, als er den immer mehr vom Alkohol gezeichneten Jelzin ersetzte. Von Anfang an verfolgte er das Ziel, Russland wieder auf die alte Augenhöhe mit den USA zu bringen, und nutzte dazu geschickt die zunehmenden Differenzen im westlichen Lager, bei dem nach dem Wegfall der großen externen Bedrohung nationale Interessen in den Vordergrund zu rücken begannen. Angela Stent arbeitet diese mentale Grundsituation sehr plastisch heraus und zeigt, dass sie sowohl bei der alten Oberschicht als auch im breiten Volk stark verankert war. Das Volk suchte gerade in wirtschaftlich desaströsen Zeiten Trost in der Vorstellung nationaler Macht, und Putin wusste diesen Kompensationsbedarf gut zu nutzen. Angela Stent verfällt jedoch nie in eine polemische Haltung und versucht, sowohl dem russischen Volk als auch Putin weitestgehendes Verständnis entgegenzubringen, ohne deshalb allerdings eklatante Verstöße gegen internationale Regularien zu bagatellisieren oder gar zu negieren. Sie will verstehen, nicht be- oder gar verurteilen.

Das wird deutlich in dem Kapitel über Europa, dass in den letzten zwanzig Jahren zwischen Russophobie und -philie irrlichtert, je nach nationaler Lage oder Ideologie. Dabei verweist Stent sowohl auf die zunehmende Russlandfreundlichkeit Ungarns oder Italiens wie auch auf die Angst der Balten und Polen, und selbst in Deutschland erkennt sie starke Strömungen zugunsten Russlands. Europa schwankt zwischen Prinzipientreue (Deutschland, Frankreich, Groß-Britannien) und einer – meist wirtschaftlich motivierten – russlandfreundlichen Politik. Putin sieht sie als einen Meister der Taktik, der die üblichen „ehrlichen“ Maßstäbe internationaler Politik gerne für einen geopolitischen Vorteil Russlands hintanstellt. Überall, wo sich Europa nicht einig ist, setzt er gezielt an und unterstützt die divergierenden Strömungen mit legitimen wie illegitimen Mitteln.

In Deutschland erkennt die Autorin aus mehreren Gründen einen zentralen Partner und Gegner Russlands zugleich. Deutschland führte im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege gegen Russland, leitete mit der „Durchleitung“ Lenins selbst die Revolution in Russland ein, war vierzig Jahre lang einerseits russisches Territorium und andererseits Frontstaat auf der anderen Seite. In Gestalt der DDR hatte Russland, alias UdSSR, über Jahrzehnte einen engen Partner deutscher Herkunft, den man auch dort 1990 nicht einfach mental entsorgen konnte. Diese Tatsache wird am besten durch die in der DDR aufgewachsene und fließend russisch sprechende Kanzlerin Merkel charakterisiert.

In der NATO sah die UdSSR und sieht Russland den größten „Feind“ Russlands. Ihr verzeiht man die Ausdehnung bis ins Baltikum und nach Polen, Bulgarien und Rumänien bis heute nicht. Angela Stent betont, dass weder bei den „2 plus 4“-Gesprächen über die Wiedervereinigung Deutschlands noch später bei anderen Verhandlungen das Thema NATO-Erweiterung schriftlich fixiert wurde. Im Wiedervereinigungsvertrag wurde lediglich die Stationierung von NATO-Truppen im Ostteil diskutiert und ausgeschlossen, und in späteren Gesprächen gab es nur mündliche Aussagen einzelner westlicher Politiker, die jedoch nie Schriftform erlangten. Stent versteht die Befürchtungen Russlands über die NATO-Erweiterung durchaus, stehen die Truppen des alten „Hauptfeinds“ doch heute vor Russlands Grenzen, sieht aber auch die ganz konkreten Befürchtungen der angrenzenden Länder und das Dilemma des Westens bei deren Bitte um die Aufnahme in die NATO.

Eng damit hängt die Frage der ehemaligen Sowjetrepubliken Weißrussland, Ukraine, Kasachstan u.a. zusammen. Nach dem „Verlust“ der westlicheren Länder wie Polen und Ungarn will Putins Russland zumindest diesen engen Kordon an „Freunden“ halten und beansprucht sie kurzerhand als „Einflussspäre“. Damit hat Russland die alten Paradigmen der ideologischen Blockzeit nahtlos in seine neue Weltsicht übernommen. Diese geht nicht von Selbstbestimmung und demokratisch gewählten Regierungen aus, sondern von „absolut“ souveränen Staaten, die sich ihre Regularien selbst geben und entsprechende Vasallenstaaten um sich herum sammeln. Es geht in dieser Weltsicht in erster Linie um Macht, Einfluss und Bedeutung, und die gewinnt man nach Putins Ansicht vor allem durch Beherrschung möglichst großer Territorien. Angela Stent arbeitet diesen fundamentalen Unterschied zwischen Russland und China auf der einen und den westlichen Ländern auf der anderen Seite prägnant heraus und zeigt damit, dass hier kurzfristig keine Änderungen zu erwarten sind. Auch wenn man dieses territoriale Denken als anachronistisch bezeichnet, ist die Tatsache selbst wegen der Bedeutung der Akteure nicht aus der Welt zu schaffen. Der Westen wird in irgendeiner Art mit dieser Weltsicht leben müssen.

Zu dieser Weltsicht gehört auch eine flexible Sicht der Vergangenheit. Während der Westen versucht, Geschichte als eine irgendwann objektiv erfassbare Folge von Ereignisse zu definieren, denen man ein endgültiges Gütesiegel bezüglich „gut“ und „schlecht“ anheften kann (siehe „Stalin“ und „Hitler“), interpretiert Putins Russland die (eigene) Vergangenheit je nach aktuellem Bedarf. So wird Stalin heute wieder als nationaler Retter verehrt, um Russlands Größe und Macht zu untermauern, und die Status von Territorien wie der Ukraine wird auch historisch der aktuellen politischen Situation angepasst.

Je ein eigenes Kapitel widmet die Autorin den Beziehungen Russlands zu China und Japan, wobei sie auf die langjährigen Konflikte mit China in Fernost hinweist und den pragmatischen, an aktuellen politischen Gegebenheiten orientierten Charakter der neuen Partnerschaft betont. Geradezu grotesk ist dagegen der sich seit dem Zweiten Weltkrieg hinziehende Konflikt mit Japan, bei dem es um einige kleine, unwirtliche Inseln in den Kurilen geht. Für beide Seiten spielen diese Inseln wirtschaftlich und strategisch keine Rolle, doch psychisch-moralisch haben beide Seiten deren Bedeutung derart hoch getrieben, dass keine Seite ohne Gesichtsverlust – vor allem bei den eigenen Nationalisten! – einen Rückzieher machen kann.

Nach einem Ausflug in den Nahen Osten, den Angela Stent zu Recht als neue internationale Spielwiese Russlands nach dem Rückzug der USA erkennt, kommt sie auf die wichtigste Beziehung zu sprechen: der zu den USA. Vierzig Jahre lang waren die USA der Hauptfeind, und jetzt sind sie Feind und Maßstab zugleich. Das größte Ziel Putins ist die „Augenhöhe“ in den Gesprächen mit den USA, und dazu greift er auch zu den ungewöhnlichsten und illegalen Mitteln wie Wahlbeeinflussung und Cyberkrieg. Alles dient laut Angela Stent dem Ziel, die USA zu den eigenen Bedingungen an den Verhandlungstisch zu bekommen. Künftige internationale Regularien sollen nicht von den USA und dem „Westen“ sondern unter maßgeblicher Beteiligung Russlands erstellt werden. Im Nahen Osten führt Russland das derzeit vor und ist dort mittlerweile dank Europas Unschlüssigkeit und Amerikas Rückzug zum unverzichtbaren Akteur geworden, an anderen Stellen wie Cuba oder sogar Venezuela versuchen es die Russen.

Das Kapitel über die Beziehungen zu Trump und den heutigen USA ist denn auch das dichteste und mit den meisten Detailinformationen unterfütterte. Der Bericht über die letzten Jahre liest sich fast wie ein Krimi, wobei gerade Trumps Unberechenbarkeit die Russen zu so mancher Fehlspekulation verführt hat. Die Rivalenkämpfe werden sozusagen auf engstem Raum geführt, wobei Putins kühl kalkulierender Taktik Trumps erratischer Politikstil gegenübersteht. Angela Stent sieht hier ein offenes Rennen, wobei sie besonders auf die wirtschaftliche Notlage Russlands verweist. Die Aufrüstung auf Kosten der Bevölkerung sowie die Kriege und anderen internationalen Aktivitäten Russlands könnten zu innenpolitischen Instabilitäten führen, die irgendwann Putins Kontrolle entgleiten könnten. Das sind aber nur Möglichkeiten, und Stent rät dem Westen, Russland als Tatsache so zu akzeptieren, wie es sich derzeit darstellt, ohne aber deswegen überzogene Forderungen zu erfüllen oder gar (militärische) Übergriffe zu dulden. Eine militärische Reaktion kommt auch für sie nicht in Frage, aber die Wirtschaftssanktionen haben sich bisher durchaus bewährt und könnten zukünftig sogar ein entscheidende Rolle spielen.

Ein lesenswertes Buch, dass zwar keine Geheimnisse aus den Archiven lüftet, aber die Essenz der letzten zwanzig Jahre überzeugend herausarbeitet. Es ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst einschließlich Anmerkungen und Register 558 Seiten und kostet 25 Euro.

Frank Raudszus

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