Hochamt der Kammermusik

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Das Streichquartett entwickelte sich Ende des 18. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Musikgattungen, da diese Form bereits mit wenigen Spielern konzertante Musik ermöglichte, im Gegensatz zur Klaviermusik „portabel“ war und es auch Privatleuten ermöglichte, in den eigenen vier Wänden oder öffentlich anspruchsvolle Musik zu spielen. Joseph Haydn und Mozart setzten dabei die Standards, Ludwig van Beethoven und Franz Schubert als letzte Vertreter der Klassik führten diese Gattung an ihre Grenzen und darüber hinaus.

V.l.n.r.: Jana Kuss (Violine), Oliver Wille (Violine), William Coleman (Viola), benedict Kloeckner (Violoncello), Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello) © RMF / Ansgar Klostermann

Im Rahmen des Rheingau Musik Festivals trat das Kuss-Quartett mit Jana Kuss (Violine), Oliver Willie (Violine), William Colemann (Viola) und Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello) am 12. August auf Schloss Johannisberg mit Ludwig van Beethovens „Rasumovsky“-Quartett und Franz Schuberts Streichquintett op. posth. 163 auf. Für letzteres hatte sich das Quartett mit dem renommierten Cellisten Benedict Kloeckner verstärkt.

Den Beginn machte jedoch eine kurze Komposition des zeitgenössischen Komponisten Enno Poppe, der aus einem kurzen tonalen Thema vierzehn Variationen entwickelt, die den tonalen Ursprung deutlich sprengen. Dabei nehmen die Variationen an Länge und Komplexität zu, wobei alle Töne einschließlich Glissandi durchlaufen werden. Bei den meisten Variationen setzt das Cello den Schlusspunkt mit einem gezupften Ton, doch bevor das zu einer voraussehbaren „Masche“ wird, lässt der Komponist diesen Schluss bei der einen oder anderen Variation auch weg und unterläuft dadurch eine eventuelle Erwartungshaltung. Mit seinen Klangmischungen erweckt Poppe ganz unterschiedliche emotionale Assoziationen außerhalb des üblicherweise durch Musik erzeugten Rahmens. Diese emotionale Wirkung lässt sich schwer mit Worten fassen und changiert zwischen Melancholie, Nachdenklichkeit, Furcht und Introvertiertheit. Diese Gefühlswelt erinnert an einigten Stellen an Beethovens späten Werke.

Insofern war die nur fünfminütige Aufführung von Poppes Stück eine gute Hinführung zum ersten größeren Werk des Abends: Ludwig van Beethovens drittes Rasumovsky-Quartett Nr. 9 C-Dur op. 59 Nr. 3. Bei der Uraufführung im Jahr 1807 erntete es ablehnende Kommentare wie „Flickwerck eines Wahnsinnigen“, aber auch lakonische wie „Die sind nicht für Sie, sondern für eine spätere Zeit“. Wie recht letzterer Kommentator hatte! Heute betrachten wir diese drei Quartette als einer der zentralen Werke von Beethovens Kammermusik. Tatsächlich löst Beethoven hier die klassische Sonatenform weitgehend auf, wo nicht in der Struktur, so in der Ausgestaltung. Vortrag einer eingängigen Melodie durch die Violinen und Begleitung durch Viola und Cello sind für Beethoven Vergangenheit. Statt durchgängiger Melodien erscheinen kurze Themen in vielfältiger Abwandlung bezüglich Klang, Tempo und Rhythmus. Der erste Satz ist voller instrumentaler Reduktionen und Kontraste, der ausgedehnte zweite – ein lyrisches Adagio – ist geprägt von einem düsteren Beginn, einem ostinat gezupften Cello und wechselnden Motiven und Tempi. Im dritten erfolgt eine regelrechte Zerlegung des thematischen Materials mit extremen Spannungen und Tempodehnungen, und der vierte Satz geht im „attacca“-Modus aus diesem hervor und stürmt mit viel Verve dem Ende entgegen. Seine außergewöhnliche Länge deutet auf Beethovens Absicht hin, diesen Satz auch als Abschluss der gesamten Rasumovsky-Reihe zu gestalten.

Das Kuss-Quartett interpretierte dieses anspruchsvolle Werk mit höchster Konzentration und schuf mit seiner Intonation einen ausgesprochen dichten und spannungsreichen Klangraum, der die Zuhörer keinen Augenblick aus seinem Bann entließ. Jedes Motiv, ja jede Note waren hier von Bedeutung, und die einzelnen Instrumente waren mit hoher Transparenz bis zum Schluss präsent. Man spürte förmlich die fast atemlose Aufmerksamkeit des Publikums.

Nach der Pause kam ein Spätwerk Franz Schuberts zu Gehör, das posthume Streichquintett op. 163, ebenfalls in C-Dur. Die Zusammenstellung dieser beiden Werke zeigt deutlich den Einfluss Beethovens auf Schubert, wobei letzterer nur ein wenig mehr Wiener „Schmelz“ in seine Themen bringt. Doch die Gefühlstiefe und die Radikalität der Ausführung ist ähnlich. Auch Schubert sprengt den Rahmen des klassischen Streichquartetts deutlich. Mit der Hinzunahme eines zweiten Violoncellos betont er die tieferen Klänge und beschränkt das sonst solo wirkende Instrument von seiner Begleitfunktion. Der noch junge Benedict Kloeckner zeigte gleich von Beginn sein hohes Talent, indem er ständig mit viel Körpersprache spielte und bei jeder musikalischen Wendung oder Besonderheit den Blickkontakt mit seinen Mitspielern suchte, um den musikalischen Ausdruck gemeinschaftlich zu intensivieren.

Im ersten Satz mit seinem verhaltenen Beginn begleitete Kloeckner die anderen Instrumente über lange Strecken durch gezupfte Sequenzen, um dann auch in den Streichermodus überzuwechseln. Der äußerst intensive zweite Satz ist ein einziger, ausgedehnter Spannungsbogen, der bis zum Ende seine Ausdruckskraft nicht nur hält sondern noch steigert, und eine Todessehnsucht durchzieht unverkennbar dieses getragene und doch dichte Adagio. Das Scherzo des dritten Satzes ist voller Dramatik und Aufruhr. Hier wehrt sich Schubert noch einmal gegen die drohende Vergänglichkeit, bevor der vierte Satz mit tänzerischer Leichtigkeit beginnt. Jetzt sind alle schwermütigen Gedanken vorbeigezogen, und „Grinzig“-Motive schimmern immer wieder hindurch. Bei aller tiefen Emotionalität schubertscher Kammermusik hat auch stets die melodiöse Musik aus dem Weinviertel ihren Stellenwert.

Dieses Werk stellte tatsächlich den Höhepunkt eines langen Kammermusikabends dar. Allein die für ein kammermusikalisches Werk ungewöhnliche Dauer von einer Dreiviertelstunde stellte höchste Anforderungen an die Musiker. Dazu kommen die kontrastierenden Sätze mit ihren ausgeprägten emotionalen Momenten, die höchste Abstimmung und permanente Aufmerksamkeit von den Musikern verlangten. Dieses Werk kennt keine Momente einfach nur musikalischer Spiellust, jeder Takt und jedes Motiv spannen neue Klangfelder und Ausdrucksvarianten auf, die es gilt angemessen zu interpretieren. Das gelang den fünf Musikern auf einzigartige Weise, und Benedict Kloeckner fügte sich nahtlos in dieses Ensemble ein, das höchste Intensität und Musikalität ausstrahlte.

Ein wahrhaft großer Abend der Kammermusik, und das Publikum dankte den Musikern mit kräftigem Applaus, der noch eine Zugabe einbrachte: das Menuett aus Boccherinis Streichquartett Nr. 11, gespielt mit sehr viel Humor angesichts des Bekanntheitsgrades dieses Stücks.

Frank Raudszus

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