Flamenco ohne Folklore

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Touristen in Spanien werden gerne zu Flamenco-Veranstaltungen eingeladen. Die malerischen, meist rot-schwarzen Kleider der Frauen und die schmachtenden Gitarrespieler sind immer ein Staunen und Applaus wert. Dabei überwiegt meist die weich gespülte Foklore, die eher auf angenehme Empfindungen der leichten Art aus ist.

Der Flamenco hat zwar vieldeutige Ursprünge, doch allen Erklärungen ist der Protest gegen Unterdrückung und der Stolz auf das eigene Land und die eigene Kultur gemeinsam. Der Flamenco ist nur zusammen mit dem ursprünglichen „majismo“ zu verstehen. Uuerfüllte Liebe und Aufbegehren gegen Leid und Not sind die wichtigsten Themen des Gesangs.

Die Companía Linán

Der spanische Tänzer und Choreograph Manuel Linán hat mit seiner Truppe „Companía Linán“ eine Produktion mit dem Titel „Viva!“ auf der Basis der Flamenco geschaffen, die den Flamenco ernst nimmt und ihn an seinen geradezu archaischen Wurzeln packt. Mit dieser Choreographie gastierte Manuel Linán am letzten September-Wochenende im Staatstheater Darmstadt.

Die Companía besteht – einschließlich Manuel Linán – aus sieben Tänzern. Linán lässt alle in Frauenkleidern auftreten. Damit verdeutlicht er, dass seine Choreographie und die Tänzer sich nicht an die strengen Regeln des Flamenco für den männlichen und weiblichen Part halten, sondern die Art der Bewegungen weitgehend freistellen. Wenn die Tänzer hier als Frauen mit Perücken auftreten, ist das also nicht als fader Verkleidungsscherz zu sehen, sondern als äußeres Symbol der Geschlechtsneutralität. Die Kostüme sollen auch keinen androgynen Eindruck vermitteln, denn dazu sind die Kleider viel zu konventionell-weiblich. Und das Publikum soll die Tänzer als Männer durchaus erkennen, oder besser: die Vereinigung beider Geschlechter in jeweils einer Figur.

Das funktioniert vom ersten Augenblick an hervorragend, was auch daran liegt, dass die Tänzer auf jegliche platten Merkmale von Weiblichkeit verzichten und ihren Figuren einen zwar herben, aber – je nach szenischer Vorgabe – durchaus weiblichen UND männlichen Charakter verleihen. So sind die Übergänge vom geschmeidig-wirbelnden Tanz einer Frau zum eher eckig-kämpferischen eines Mannes fließend und führen nie zu sichtbaren Brüchen.

Linán erzählt in den einzelnen Szenen Geschichten von Frauen und Männern, Einzelnen und der Gruppe und von stillen Sehnsüchten. Da messen sich zwei Frauen auf eifersüchtige Weise im Tanz und kratzen sich dabei metaphorisch gegenseitig fast die Augen aus. Dann wieder zwingt die Gruppe eine Frau vorzutanzen, oder die anderen Frauen schauen der Vortänzerinnen unter den Rock, um den Ursprung des wirbelnden Step-Tanzes zu erkunden. Immer wieder steht auch die Beziehung zwischen Mann und Frau im Mittelpunkt. Dann erscheinen die beiden Sänger – David Carpio und Antonio Campos – auf der Bühne und dringen mit ihren mächtigen Stimmen auf die jeweiligen Damen ein. Und der Gitarrist Francisco Vinuesa untermalt die Szenerie mit rauschenden Saitenklängen.

Die gesamte Choreographie lebt von ihrer geradezu archaischen Wucht. Sowohl die Instrumentalmusik als auch der Gesang und vor allem der Tanz sind von höchster Präsenz. Statt netter Folklore-Unterhaltung mit malerischen Kostümen herrschen hier brodelnde Emotionen, die sich in entsprechenden Gesangspartien wie in den Bewegungen der Tänzer niederschlagen. Heißes Begehren, hochmütige Abweisung und zornige Enttäuschung wechseln sich ab mit – auch mal lyrischer – Sehnsucht, aufbegehrender Hoffnung und überschießender Lebensfreude. Die emotionalen Befindlichkeiten durchlaufen aufpeitschende Wechselbäder in Gestalt musikalischer Klagen aus tiefster Brust, Liebesschwüre stolzer Männer und wirbelnder Tanzfiguren der männlichen Frauen, die den Avancen und Vorwürfen der singenden Männer immer wieder elegant und mit Stolz aus dem Wege gehen.

In dieser etwa hundertminütigen Choreographie gibt es keine Atempause und schon gar nicht Langeweile. Ständig wechseln die Szenen, die Art der Auftritt und auch die Kostüme. Da treten dann auch einzelne Tänzer sichtbare als Frauen auf, die Männer spielen, und schaffen damit eine doppelte Gender-Camouflage. Das ist durchaus witzig auch ohne platte Witze. Überhaupt liegt der Humor dieser Choreographie in den ständig zwischen männlichen und weiblichen Attributen changierenden Figuren der Tänzer, ohne dass Griffe in die unteren Schubladen der Gender-Trickkiste nötig wären.

Die Musik – Schlagzeug, Geige, Gitarre und Gesang – hat einen großen Anteil an der bezwingenden Wirkung dieser Choreographie, treibt sie doch die Tänzer und damit das Geschehen auf der Bühne voran, ohne auch nur einmal in gefällige Unterhaltungsmusik abzugleiten. Bis zur letzten Szene, wenn die Tänzer ihre Kleider und Perücken ablegen, füllt diese urwüchsige, kompromisslose Flamenco-Musik das Kleine Haus des Staatstheaters.

Das Publikum war begeistert und spendete frenetischen Beifall.

Frank Raudszus

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