Alexander Osang: „Die Leben der Elena Silber“

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Dieser Roman des zeitgenössischen Autors Alexander Osang gruppiert sich um die Lebensläufe zweier verwandter Menschen, die sich an der Peripherie ihre Biographien noch kennenlernten, obwohl sie zu unterschiedlichen Epochen und auch Systemen gehören.

Da ist der Ich-Erzähler Konstantin, bereits über vierzig, geschiedener Vater eines Sohnes und Drehbuchautor mit überschaubarem beruflichen Erfolg. Im Jahr 2017 muss er miterleben und letztlich akzeptieren, dass seine herrsch- und kontrollbesessene Mutter seinen Vater wegen beginnender(!) Demenz in ein Heim abschiebt. Auch ihm hält seine Mutter ständig seinen beruflich schon fast prekäre Situation vor und versucht, ihn zu lenken, wenn nicht zu manipulieren.

Seine Mutter hat noch vier Schwestern und wanderte mit ihrer Mutter Elena Ende der dreißiger Jahre aus Russland nach Deutschland ein. Halb aus originärem Interesse und halb aus der Not der schlingernden beruflichen Laufbahn forscht er erst sporadisch, dann intensiver dem Leben seiner Tanten und der bereits verstorbenen Großmutter nach.

Elena kam Anfang des 20. Jahrhunderts in einem kleinen Ort östlich von Moskau zur Welt. Ihr Vater fiel als eher passiver Anhänger der Februar-Revolution 1905 einem zarentreuen Mob zum Opfer, und sie musste mit ihrer Mutter und ihrem Bruder fliehen. Als junges Mädchen kehrte sie mit ihrer Mutter und deren neuem Mann in ihren Heimatort zurück, ging jedoch wegen dessen Zudringlichkeit bald nach Moskau zu einer Sekretärinnenschule. Ihr Bruder ging schon als Vierzehnjähriger erst zur Marine und dann zur Partei und lebte ebenfalls in Moskau.

Die beiden Handlungsströme werden abwechselnd erzählt und anfangs nur schwach und andeutungsweise über die Namen verzahnt. Doch je weiter Konstantin seine Tanten befragt, desto klarer wird die Familiengeschichte, denn er selbst ist der Enkel des einstigen russischen Mädchens, das mit seiner Mutter nur knapp den zaristischen Schergen entwischte.

Osang lässt die einzelnen Charaktere in epischer Breite aufblühen. So schildert er Konstantins Vater als Tierfreund, der zu DDR-Zeiten ein bekannter Tierfilmer war. Den von der Demenz geschlagenen Alten setzt er mit der Person des Vaters ein würdiges Denkmal. Bewusst hat er den Beginn dieser Krankheit gewählt, weil sie weder die Demütigung noch die oft unfreiwillige und makabre Komik des Endzustandes enthält. Doch der Weg des Vaters zeichnet sich deutlich ab. Auch die Härte und Verbitterung der Mutter wird sichtbar und lässt sich bis in die Kindheit und Jugend im Dritten Reich und in der DDR zurückverfolgen.

Von der DDR hat der Ich-Erzähler im Gegensatz zum Autor nicht allzuviel mitbekommen, da seine Erinnerungen ihn im Jahr 1984 als Elfjährigen ausweisen. Der signifikante Altersunterschied zwischen Autor und Hauptperson ist offensichtlich bewusst gewählt, um autobiographische Zuschreibungen auszuschließen oder zumindest zu erschweren. Sicher sind auch viele DDR-Erfahrung und eigene familiäre Erlebnisse in diesen Roman eingeflossen, aber aufgrund der erwähnten Altersdifferenz bilden sie kein vordergründiges autobiographisches Tableau.

Osang gelingt es überzeugend, das Leben im vor- und nachrevolutionären Russland zu beschreiben. Er beschränkt sich dabei konsequent auf die Perspektive der jungen Elena, die weder die innenpolitischen Intrigen und Kämpfe mitbekommt noch gar die Gefahr wirklich abschätzen kann, in der sie und ihre Kinder schweben. Denn sie hat den Deutschen Robert Silber geheiratet, der in den zwanziger Jahren in Russland eine Textilindustrie aufbauen soll. Nur mit der Hilfe ihres Bruders, der in den dreißiger Jahren offensichtlich eine hohe Position in der Partei innehat und grundsätzlich nie über Politik spricht, kann Elena im Jahr 1936 mit ihrem Mann und ihren Töchtern den stalinistischen Säuberungen nach Deutschland entkommen, nicht ahnend, dass sie dabei vom Regen in die Traufe gerät. Denn spätestens nach dem Überfall auf Russland im Juni 1941 gilt sie bei ihrer deutschen Verwandtschaft zumindest unterschwellig als „Feindin“.

Osang lässt die beiden Biographien stetig aufeinander zugehen, und dabei treffen sie sich natürlich in der DDR, wo Elena als alte Frau die Kinder ihrer Töchter je nach Bedarf betreut. Für diese ist sie nur die „Baba“. Dabei lässt Osang mit viel Freude am Erzählen Stück für Stück das Leben in der DDR aufblühen, wobei er sowohl auf Denunziation als auch auf Verklärung verzichtet. Das gelingt ihm, weil er sie aus der Sicht eines Kindes und eines Jugendlichen beschreibt, der dem System weder mit Vorwissen, noch mit ideologischer Überfrachtung oder gar erfahrungsgesättigter Abneigung begegnet.

Das zeitliche Zusammentreffen der sich natürlich entwickelnden Biographie von Elena und der Rückschau des Ich-Erzählers muss sich jedoch auch inhaltlich schlüssig ergeben. Dazu hat der (allwissende!) Autor die berufliche Situation des Ich-Erzählers als latent prekär angelegt. Er habe sein Thema noch nicht gefunden, sagt ihm seine Mutter in hämisch-enttäuschten Ton gerade ins Gesicht. Das stimmt offensichtlich, wie man den thematisch heftig schlingernden Drehbuchideen Konstantins entnehmen kann. Nach anderen gescheiterten Ideen versucht er gerade, die Misserfolgsgeschichte eines serbischen Flüchtlings und Tennisspielers filmisch umzusetzen, der selbst außer einigem Tennistalent keine außergewöhnlichen Fähigkeiten mitbringt und als Trainer von Oligarchen und verwöhnten Kindern arbeitet. Der Hörer weiß sofort: auch dieses Projekt wird scheitern. Als er dann mit seinen Eltern in die ehemalige Heimatstadt seiner Mutter fährt und dort etwas über ihre Erlebnisse im Krieg erfährt, lässt ihn die Familiengeschichte nicht mehr los. Langsam kristallisiert sich für ihn und die Leser bzw. Hörer heraus, dass er endlich „sein Thema“ gefunden hat und seiner beruflichen Laufbahn einen neuen Sinn geben wird.

Im Wechsel wird nun die weitere Geschichte Elenas und ihrer Töchter gegen Kriegsende und danach in der SBZ, der späteren DDR, aus Elenas Perspektive und der Einstieg Konstantins in seine Familiengeschichte geschildert. Elenas Mann verschwindet kurz nach Kriegsende unter dubiosen Umständen, und langsam schält sich die quälende Möglichkeit heraus, dass er in einem KZ für russische Frauen einen leitenden Posten innegehabt hat. Doch weder Elena noch ihre alt-neuen russischen Bekannten finden etwas heraus. Elena erlebt die Jahre der DDR und schließlich sogar die Wende und die frühen 90er Jahre.

Auch Konstantin kommt auf die Idee, dass sein verschwundener Großvater im Krieg eine kompromittierenden Position bekleidet haben könnte. Er geht der Familiengeschichte nicht nur bis in den schlesischen Wohnort seiner deutschen Vorfahren nach, sondern schließlich auch dem russischen Zweig und besucht den Ort Garbatov, in dem sein Urgroßvater im Jahre 1905 gelyncht wurde. Er erwartet irgendwelche erschütternden oder zumindest erhellende Erkenntnisse, findet aber nur die alltägliche Tristesse eines vergessenen Ortes vor.

Am Ende findet sich Konstantin an der Seite seines unter beginnender Demenz leidenden Vaters und erkennt, dass sein „großes“ Thema nicht ein internationales und Epochen übergreifendes Familiendrama ist, sondern sondern seine ganz eigene Familiengeschichte mit ihren kleinen, deshalb aber nicht unwichtigeren Dramen einschließlich seiner eigenen privaten Zukunft und die seines kleinen Sohnes. Osang führt das nicht im Detail an, aber es klingt in Konstantins abschließendem Monolog an.

Osang verzichtet auf jegliches publikumswirksames Ende. Ein „Happy End“ mit wiedergefundenem Großvater wäre sowieso Kitsch gewesen, aber auch die Erkenntnis schwerster Kriegsverbrechen des Großvaters hätte zwar die „Betroffenheitsdrüsen“ angesprochen und ein wohlig schlechtes Gewissen beim Zuhörer hervorgerufen, hätte aber am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts als bemühte moralische Pointe gewirkt. So lässt er den Roman glaubwürdig im Alltäglichen enden, das ja unser aller Schicksal ist.

Bewundernswert ist Osangs episches Talent. Er verzichtet auf thriller-affine Spannungsmomente und erzeugt doch beim Zuhörer (wahrscheinlich auch beim Leser) eine permanente Spannung, wie es denn jetzt weitergeht. Die Personen beschreibt er mit soviel Glaubwürdigkeit und Liebe zum Detail, dass sie quasi schon zur eigenen Familie des Zuhörers gehören. Dabei verleiht er jeder Person ihr ganz eigenes, unverwechselbares Profil und vermeidet jegliche Klischees. Der demente Vater ist letztlich nur „ein bißchen“ dement und hat viele klare Augenblicke, und die herrschsüchtige und oftmals rabiate Mutter zeigt plötzlich auch emotionale Regungen. Und die Hauptperson Elena durchläuft nicht nur verschiedene leichte und schwere Lebensphasen, sondern entwickelt dabei auch ein leidensfähiges, verzeihendes und letztlich lebensbejahendes Wesen, ohne dass sie je ins typische Großmutter-Klischee abgleitet.

Ein Volltreffer dieses Hörbuchs ist auch der Sprecher. Stefan Kaminski liest diesen Roman nicht nur mit viel Gespür für die jeweilige emotionale Situation, sondern er verfügt darüber hinaus über die Gabe, den einzelnen Personen ihre eigene, individuelle Stimme zu verliehen, fast wie ein Stimmensimulatoren. Da spricht der Vater mit brüchiger Altmännerstimme, die Mutter sieht man bei ihren bissigen Bemerkungen förmlich mit ihren zusammengepressten Lippen vor sich stehen, die Schwestern der Mutter haben ihre ganz eigenen (Frauen!)-Stimmen, und jedes Mal transportieren diese Stimmen den gesamten Menschen und seine jeweilige Situation. Man könnte meinen, hier handele es sich um eine Hörspiel mit verschiedenen Sprechern.

Der einzige Nachteil dieses Hörbuchs besteht darin, dass man es – zum Beispiel nach einer längeren Autofahrt – nicht mehr abstellen kann….

Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst drei CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 103 Minuten und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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