Clemens Meyer: „Im Stein“ – Die im Dunkeln, die sieht man nicht

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Bestimmte Lebensbereiche der menschlichen Gesellschaft werden üblicherweise in dafür typischen literarischen Genres abgehandelt. Für Geheimdienst und Militär gibt es den Thriller, für Politik das Sachbuch (oder auch den Thriller), für das Innenleben den psychologischen Befindlichkeitsroman und für die romantische Liebe den Liebesroman. Das älteste Gewerbe der Welt, die Prostitution, mag in all diesen Genres vorkommen, aber meist als mehr oder weniger anrüchige Zutat. Man denke nur an die „Kameliendame“. Wenn ein Buch von Prostitution handelt – ob Sachbuch oder Roman -, dann meistens in anklagendem Tonfall. Ausnahmen bestätigen die Regel.

1402_im_SteinEine solche Ausnahme stellt der vorliegende Roman von Clemens Meyer dar. Die Handlung spielt nahezu ausschließlich im Milieu der Prostitution und der dazugehörigen Organisationen in einer deutschen Großstadt. Meyer ist gebürtiger Hallenser und wohnt in Leipzig. Zwar nennt er nie den Namen des Handlungsortes, aber da es sich um eine größere Stadt nicht weit von Berlin handelt, die auch über einen eigenen Flugplatz verfügt, liegt es nahe, dass Leipzig zumindest das Vorbild für diese Stadt ist. Angesichts der verschiedenen Prozesse der jüngsten Vergangenheit gegen Romanautoren wegen Persönlichkeitsverletzungen hat Meyer den Ort wahrscheinlich aus juristischen Gründen notdürftig verschleiert. Theoretisch könnte es sich ja auch um Rostock oder Erfurt handeln. Auf jeden Fall liegt die Stadt in den Neuen Bundesländern. Der Titel „Im Stein“ verweist offensichtlich darauf, dass die Prostituierten ihr Gewerbe nicht auf der Straße oder im Wohnmobil betreiben, sondern in einer Wohnung innerhalb einer richtigen „steinernen“ Immobilie, und scheint ein stehender Begriff in dieser Branche, zumindest in der besagten Stadt,  zu sein.

Die Handlung erstreckt sich über die letzten zwanzig Jahre, im Grunde genommen reicht sie zurück bis in die Zeit der Wiedervereinigung, die jedoch selbst kein Gegenstand sondern nur historischer Hintergrund der Handlung ist. Im Mittelpunkt steht der Wohnungsvermieter Arnold Kraushaar, genannt AK, der bald nach der Wende den neuen Markt erkannt hat und in beharrlicher Fleißarbeit und mit viel Durchsetzungsvermögen ein kleines Imperium geschaffen hat. Sein Geschäftsmodell besteht darin, Prostituierten Wohnungen zur Ausübung ihrer Dienstleistungen zu vermieten, für die Sauberkeit und Ordnung dieser „Etablissements“ zu sorgen und sich auch um Schutz und Wohlbefinden der Frauen zu kümmern. Er versteht sich jedoch nicht als Zuhälter, als den ihn wahrscheinlich viele Mitbürger bezeichnen würden, sondern als nüchternen, seriösen Geschäftsmann, der sich in einem legalisierten Markt mit legalen Geschäftsmethoden bewegt. Meyer legt diesen Typus auch nicht aus der Sicht des objektiven, höher stehenden Beobachter als satirische Karikatur an, sondern als einen in sich konsistenten und durchaus nicht unsympathischen Mann zwischen dreißig und fünfzig – abhängig von dem jeweiligen Zeitpunkt der betrachteten Epoche.

Ähnliches gilt für die jungen oder nicht mehr ganz so jungen Frauen des Gewerbes, die er ausgiebig in Gestalt der seit Joyces Molly so beliebten  Bewusstseinsströme zu Wort kommen lässt. Das sind scheinbar ungeordnet aneinandergehängte Gedankengänge der jeweiligen Person, die sich aus Erinnerungen und spontanen Assoziationen einschließlich der uns allen bekannten gedanklichen Ab- und Ausschweifungen zusammensetzen. In diesen Gedankenströmen schildern die Frauen in der ihnen je eigenen Sprache ihre Biographie und ihre Befindlichkeit. Auch dabei verzichtet Meyer völlig auf den so beliebten moralischen Zeigefinger, der die Prostituierten entweder als arme aber edle Seelen darstellt, die um des Essens für die alte Mutter und die kleinen Kinder im fernen Osteuropa willen oder als entführte und zur Prostitution gezwungene naive Mädchen auf die Straße gehen. Er bestreitet nicht deren Existenz, aber es geht ihm nicht um diese Fälle sondern um den – wie er es sieht – Normalfall, dass die Frauen in diesem Beruf die Möglichkeit zu schnellem Gelderwerb und gutem Auskommen sehen. Dabei haben diese Frauen auch ihre Träume von einem anderen Leben, aber auch diese Träume handeln nicht, wie oftmals behauptet, vom treusorgendem Ehemann, zwei Kindern und einem Reihenhaus im Grünen, sondern nur von Ruhe, einem geschützten Privatleben und persönlichen Beziehungen. Diese Frauen betrachten sogar die Sexualität als Bestandteil einer privaten Beziehung, trennen sie aber scharf von der beruflichen Seite.

Meyer setzt damit ein provokatives Zeichen gegen den politisch korrekten „Mainstream“, der Prostitution vor allem als Ausbeutung brandmarkt, der Feminismus à la Alice Schwarzer vorneweg. Meyer nimmt den Spruch vom „ältesten Gewerbe der Welt“ ernst und geht von der Tatsache aus, dass die Sexualität nicht nur einer der stärksten Triebe des Menschen – wenn nicht der stärkste – ist und damit eine nicht nur idealistisch und moralisch geschönte Deutung erlaubt, wie sie gerade die Kirche in den letzten tausend Jahren in die Welt gesetzt hat. Man denke nur daran, dass die Antike – die Hetären und die Knabenliebe der Griechen – und das frühe Mittelalter mit seinen Gemeinschaftsbädern eine ganz andere, unbefangenere Einschätzung gegenüber den verschiedenen Ausprägungen der Sexualität zeigten. Erst das Auftreten der Geschlechtskrankheiten im Verein mit der antiweltlichen und -körperlichen Einstellung der Kirche schuf die Sexualmoral der Moderne, die sich auch in einer postreligiösen Gesellschaft gehalten hat. Meyer lässt in diesem Zusammenhang seine Protagonisten über die „Tatort“-Serie räsonieren, in der eine Kommissarin ihren Freund fragt, ob er einmal eine Prostituierte besucht habe. Als dieser rumdruckst, ist die Beziehung schwer gestört. Meyer entlarvt diese Haltung durch die Worte seines Protagonisten als ein verkrustetes, geradezu spießiges Ressentiment aus einer klerikal-autoritären Epoche, ohne sich deswegen in soziologische Terminologien zu verirren.

Überhaupt spürt Meyer dem unterschiedlichen Sprachduktus und -vermögen seiner Personen nach. Da ist erst einmal AK, um den sich die Handlung weitgehend dreht, und der den Wessis, die anfangs den lokalen Sex-Markt beherrscht hatten, durch langfristig angelegte Strategien den Boden abgegraben hatte, in neuerer Zeit aber gegen die aufkommenden „Sex-Syndikate“ einen schweren Stand hat. AK hat nicht nur die nüchterne Sicht des Geschäftsmanns auf diesen Markt, er hat neben seiner Tätigkeit auch noch BWL an der Universität studiert und zitiert des Öfteren an passender Stelle die betriebswirtschaftlichen Maximen des Professors. Seine Sprache ist die eines erfolgreichen Unternehmers, der durchaus nicht nur in kurzfristigem Profitdenken verharrt. Neben ihm kommen andere Vertreter dieses Berufsstandes zu Wort, vom etwas biederen ehemaligen Fleischer, der sich mit eher bodenständigen Methoden im Markt bewegt, über den etwas windigen „Hans Dampf in allen Gassen“ und den Türsteher und „Security-Mann“, der aus Angst um die Zukunft irgendwann bei der Polizei „singt“, den eleganten Hochstapler aus dem Westen, der hier ein edles Sex-Imperium plant, bis hin zum kleinen Luden aus dem Ruhrpott, der auch sein schnelles Geschäft auf der Straße machen will. Allen diesen „Archetypen“ der Branche verleiht Meyer eine eigene, milieutypische aber nie überzeichnete Sprache. Alle diese Vertreter der Branche bleiben glaubhaft und, vor allem, immer Menschen, nie Abziehbilder des „Bösen“.  selbst der Chef der „Engel“, des neu heraufziehenden Syndikats, das die Prostitution als „Business“ einer großen Kette aufzieht, ist kein schmieriger Gangster, sondern könnte genauso gut eine weltweite Burger-Kette kontrollieren. Die „Engel“ sind dabei deutlich an die „Hells Angels“ angelehnt, zeichnen doch auch sie sich durch das Fahren teurer Motorräder aus.

Dieselbe individuelle Charakterisierung lässt Meyer auch den Damen des Gewerbes angedeihen. da ist die junge Frau, die anfangs einen normalen Beruf erlernt hatte, dann arbeitslos wurde und von einer Freundin angesprochen wurde. Nach anfänglichem Zögern überwand sie ihre Abneigung und lernte die Vorteile des guten Geldes schätzen. Den käuflichen Sex kann sie bald als Dienstleistung einordnen, auch nicht viel anders als Haareschneiden, bisweilen unappetitlich wie so vieles im Leben, bisweilen sogar angenehm. Jede dieser Frauen versucht, sich eine Stammkundschaft aus möglichst älteren, gepflegten Männern aufzubauen, die gute Manieren zeigen und zuverlässig zahlen. Wenn sie ausgefallene Wünsche haben, kann man bei entsprechender Bezahlung darüber reden. So lautet die Grundeinstellung der meisten Frauen, wobei die Sprache den jeweiligen Bildungs- und Reflexionsstand widerspiegelt. Auch hier zeigt Meyer durchaus Unterschiede, vom naiven fünfzehnjährigen Mädchen bis zur erschöpften und desillusionierten Fünfzigjährigen, die sich nur noch den Ruhestand ersehnt. Auch eine Berufsehre kennen die Frauen, die zum Beispiel die jungen Studentinnen verachten, die für ein halbes Jahr zum schnellen Geldverdienen zu den anderen Frauen stoßen, um dann wieder zum normalen Studium zurückzukehren,

Ein berührendes Kapitel schreibt Meyer aus der Sicht und in der Sprache eines fünfzehnjährigen Straßenmädchens, das von darauf spezialisierten Zuhältern – ja, auch die gibt es in diesem Buch – mit anderen Mädchen dieses Milieus buchstäblich in Wohnungen eingesperrt, verpflegt und gekleidet und schließlich gut zahlenden älteren Männern vornehmlich höherer Gesellschaftskreise zugeführt wird. Das Mädchen versteht gar nicht richtig, was mit ihm geschieht, und rettet sich geradezu in die Welt der Comics von Entenhausen und Donald Duck. Und wenn Meyer seine Protagonisten erzählen lässt, dass nach dem Auffliegen dieses Jugendbordells die dort heimlich angefertigten Fotos und Videos verschwunden sein sollen, dann ist das eine deutliche Kritik an ähnlichen Vorkommnisse in der außerliterarischen Realität.

Erschwerend für die Lektüre ist die permanente Vermischung der Zeitebenen. selbst innerhalb eines Kapitels kann die Handlung plötzlich um zehn oder fünfzehn Jahre vor- oder zurückspringen, ohne dass dies in herkömmlicher epischer Form deutlich gemacht wird. Nur der jeweilige historische Kontext, hingeworfene Jahreszahlen oder der Verweis auf Ereignisse, die man aus einer späterem oder früheren Episode bereits kennt. So wird zum Beispiel ein Kriminalkommisar, selbst Stammkunde einer Prostituierten, zu einem dreifachen Leichenfund in einem Moor gerufen. Einige Kapitel später erfährt der Leser in einer Art Rückblende, wie dieser Mord zustandekam, jedoch wieder als eine Art persönlicher Rückblende des Täters. Auch innerhalb der inneren Monologe der Protagonisten springen die Zeiten ohne Vorwarnung, so dass man sich an dem „Ariadne-Faden“ der einigen Erinnerung an frühere Kapitel durch die Monologe hangeln muss. Diese Darstellung hat jedoch den Vorteil höherer psychologischer Dichte und eines Eintauchens in die innere Welt der Personen.

Meyers Roman darf man nicht missverstehen als Apologie eines verrufenen Berufsstandes oder gar als soziale Anklage. Er beschreibt dieses „Milieu“ als eine Welt mit Regeln und Gesetzen, die denen der „bürgerlichen“ Welt stark ähneln. Damit weitet sich seine implizite Kritik an den Geschäftsmethoden im „Rotlicht“-Milieu zwangsläufig auf die bürgerliche Lebensart und ihre Praktiken aus. Und damit sind nicht die unmittelbaren Kontakte der beiden gesellschaftlichen Bereiche in Person der Dienstleisterinnen und der Freier gemeint. Die Freier kommen hier durchweg nicht als Psychopathen oder verachtenswerte, verklemmte Kleinbürger daher sondern eher als Abnehmer eines Marktes daher, wobei es natürlich auch hier Auswüchse zu vermelden gibt. Meyers Romanpersonal verhält sich nicht anders als Geschäftsleute und Bürger in anderen Branchen und Lebensbereichen. Auch hier entstehen Bindungen und ergeben sich Enttäuschungen. Auch diese Leute haben ihre Prinzipien, die sich von üblichen bürgerlichen Prinzipien kaum unterscheiden. Vice versa verweisen Illoyalität, Verrat und Betrug in diesem Milieu auf die gleichen Praktiken im „normalen“ Leben. Am Ende wartet Meyer dann noch mit einer milieuspezifischen Pointe auf, die ein de facto tabuisiertes Thema aufgreift und gewisse Vorurteile gegenüber dieser Branche konterkariert.

Nebenbei erhält der Leser in diesem Roman einen Einblick in die Welt der Prostitution und in die teilweise seltsamen bis unappetitlichen sexuellen Wünsche der Kunde. Das liest sich nicht immer angenehm, aber Meyer verzichtet auf detaillierte Beschreibungen der einzelnen Praktiken und überlässt sie der Phantasie des Lesers.

Das Buch ist allein schon wegen seiner Sprachkraft und – vielfalt sowie wegen der psychologischen Feinzeichnung der einzelnen Charaktere lesenswert. Darüber hinaus vermittelt es einen gesellschaftlichen Zustandsbericht der Republik nach der historischen Wende von 1989.

Das Buch „Im Stein“ ist im Verlag S. Fischer unter der ISBN 978-3-048602-8 erschienen, umfasst 558 Seiten und kostet 22,99 €.

Frank Raudszus

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