Peter Sloterdijk: „Du musst dein Leben ändern“

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Eine philosophische Analyse des nahezu dreitausendjährigen Strebens der Menschen nach persönlicher Größe.

1107_sloterdijkWer als Bücherfreund mit philosophischen Schulkenntnissen durch einen Buchladen schlendert und den Titel dieses Buches liest, wird dahinter ein Lebenshilfebuch à la Carnegie vermuten. Greift er bei entsprechender Polung nach diesem Buch und nimmt es zwecks Verbesserung seines Lebens mit nach Hause, so wird er im wahrsten Sinne des Wortes „ent-täuscht“, denn dieser Titel ist nicht als unmittelbare, lebenspraktische Aufforderung an den Leser, sondern als hoch verdichtete Zusammenfassung von drei Jahrtausenden menschlichen Strebens gemeint, so wie Sloterdijk sie sieht. Sloterdijk lässt sich in keine philosophische „Schule“ einordnen, ja, er lehnt dies wahrscheinlich entschieden ab, und sein intellektueller Spott gilt vor allem den Nachlassverwaltern der „Frankfurter Schule“, die das Erbe Adornos und Horkeimers hüten wie einst die Sozialistischen Republiken jenes von Engels und Marx. Versteht sich, dass diese ihn nicht gerade lieben, wie sich aus den Kommentaren zu seinen Steuergedanken ablesen lässt.

Der Titel des vorliegenden Buches ist Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ entnommen. Angesichts der unbeschreiblichen Ausstrahlung des antiken Torsos befällt den Autor des Sonetts in der letzten Zeile die Erkenntnis „Du musst dein Leben ändern“, wobei er eine Erhöhung des eigenen geistigen und ethischen Bewusstseinszustandes im Sinne hat. Am Schluss des einleitenden Kapitels eben über dieses Sonett fomuliert Sloterdijk die Rilkesche Aufforderung in einen expliziten Absatz um, der so auch in einerm Lebensratgeber(!) über ein gelungenes weil leistungsorientiertes Leben stehen könnte. Wer diesen Absatz als unmittelbaren Aufruf des Autors liest – oder lesen will -, kann sie sofort als Steilvorlage für einen gelungenen Gegenangriff nutzen. Wer sie jedoch als Interpretation und Zusammenfassung einer philosophischen oder kulturhistorischen Tendenz nimmt, die nach Sloterdijks Auffassung wieder an Bedeutung zu gewinnen beginnt, hat damit die erste Voraussetzung für das Verständnis des weiteren Textes erfüllt.

Das Buch gliedert sich in vier große Abschnitte. Nach der umfassenden Einleitung, die auf knapp dreißig Seiten den Inhalt des Buches in Kurzfassung resümiert, bringt Sloterdijk in einem „Vorlaufkapitel“ Beispiele aus der Philosophie- und Kulturgeschichte. Nach der Erläuterung von Rilkes geradezu schockartiger Erkenntnis angesichts Apollos Torso bringt Sloterdijk Nietzsche ins Spiel und dessen so oft und so gern missverstandenen „Übermenschen“. Er beschreibt ihn als verspäteten Renaissancemenschen, der plötzlich die Möglichkeiten des bis dahin im mittelalterlichen Glauben eingekerkerten Lebens erkannt hat. Bestand die einzige Selbsterhöhung vormals in der Angleichung an das Göttliche durch Askese, Weltflucht und Selbstkasteiung, so kann der Mensch jetzt auch eine „Vertikale ohne Gott“ besteigen. Die „Vertikalisierung“ steht bei Sloterdijk für den Weg des Menschen nach oben, ins Besondere, Einzigartige, und zwar unmissverständlich aus eigener Leistung, nicht per Abstammung oder „Gnade“. Das Pendant dazu ist die „Horizontale“, die das Gegebene als solches hinnimmt und lediglich darum bemüht ist, es möglichst bequem einzurichten.

Da für Nietzsche „Gott gestorben“ ist, muss der Mensch für den Drang nach oben neue Ziele und Techniken finden. Sloterdijk benutzt dafür das Bild des Seils, an dem man sich nach oben hangelt, das aber nicht mehr oben am Göttlichen fixiert ist. Um es weiterhin für den Aufstieg nutzen zu können, muss es einen anderen Befestigungspunkt finden. Dass diese Suche und ihre Ergebnisse etliche Missverständnisse und Missbraüche bis hin zu den Nationalsozialisten auslösen können, versteht sich von selbst. Der „Übermensch“ ist eins davon. Sloterdijk widmet deshalb vor allem der Nietzsche-Rezeption der Nazis einen wesentlichen Teil dieses Kapitels, das sich auch mit der „Krüppel-Ideologie“ anhand des schwerstbehinderten Carl Herman Unthan (1848-1929) befasst, der ohne Arme sowohl die Schreibmaschine als auch die Geigen – mit den Zehen – beherrschte. Ein weiterer Zeitzeuge für die Vertikalisierung des Lebens ist Kafkas Werk, sei es der „Bericht für eine Akademie“, in dem Kafka den Weg nach oben geradezu satirisch beschreibt, oder „Der Hungerkünstler“, der den Begriff des modernen Asketismus laut Sloterdijk auf den Punkt bringt. Logischer Schlusspunkt dieser Reihe ist der rumänische Schriftsteller Cioran, der ein Leben von völliger Bedeutungslosigkeit als Protest gegen eine unangemessene Welt anstrebte. Das Schreiben entspringt bei ihm nicht dem Ehrgeiz sondern dem Zufall. Cioran hat die Lebensform des „Sich-Gehen-Lassens“ zu einer Art paradoxer Askese entwickelt.

Längere Ausführungen widmet Sloterdijk in diesem Fall den „Scientologen“, die es seiner Meinung nach geschafft haben, eine Religion aus dem Boden zu stampfen. Laut Sloterdijk gibt es zwei Formen der Religon: die des „Inhalts“ und die der „Form“. Erstere nährt sich aus Glaubensinhalten wie Christi Geburt und Kreuzigung sowie der Auferstehung, letztere aus Ritualen, die den Ausübenden in einen höheren Zustand versetzen. In diesem Zusammenhang erinnert Sloterdijk auch an die Olympische Idee der Moderne, die ihr Schöpfer de Coubertin ursprünglich als neue Religion institutionalisieren wollte. Dass ihm dies nicht gelang und sich die Olympischen Spiele als weltliche und letztlich kommerzielle Veranstaltung durchsetzten, ist fast schon als Ironie der Weltgeschichte aufzufassen. Der Gründer der „Church of Scientology“, Ron Hubbard, ist das Unterfangen einer Religionsgründung nach Sloterdijk dagegen wesentlich professioneller angegangen, indem er alle formalen und rituellen Elemente in einen konsistenten Rahmen brachte. Wichtiger als die große Idee – Coubertin! – und der Inhalt ist dabei die innere Stimmigkeit. Sobald ein neuer Anhänger gewonnen ist, tritt er in eine vollständig stimmige (Innen-)Welt ein, die ihre eigenen Gesetze schafft und dem Novizen von vornherein das Gefühl gibt, auf der richtigen Seite zu stehen. Ob dieses System kompatibel mit einer wie immer gearteten Realität ist, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, weil die externe Realität bei Bedarf ausgeblendet oder als „schlecht“ gebrandmarkt wird. Ähnlich wie der Sozialismus marxistischer Prägung immunisiert sich die Scientology selbst, indem sie bereits die Tatsache einer Kritik als Zeichen eines unterentwickelten Bewusstseins betrachtet. Sloterdijk kann bei aller inhaltlichen Ablehnung der Scientology einen gewissen Respekt für Ron Hubbards unternehmerische Leistung nicht verhehlen.

Im ersten inhaltlichen Kapitel, „Die Eroberung des Unwahrscheinlichen“ übertitelt, vergleicht Sloterdijk die Vertikalisierung mit Richard Dawkins` „Mount Improbable“, der die wachsende Unwahrscheinlichkeit der Evolution beschreibt. Auch für das nach Bedeutung strebende Individuum gilt dieses evolutionäre Streben nach dem Unwahrscheinlichen, sei es ein Olympiasieg oder eine Spitzenkarriere als Instrumentalvirtuose. Nach Sloterdijk ist die Theorie von Herrschaft und Unterdrückung der Klassengesellschaft von der Leistungsdifferenzierung von Individuen und Gesellschaften abgelöst worden. Diese wiederum führt in der Moderne zur Sezession der Eliten, die sich vom Staub der (All-)Gemeinheit in eigenen Zirkeln reinigen und damit vertikal von der Masse absetzen. Ludwig Wittgenstein, den Sloterdijk dabei ausführlich zitiert, hat das gemeine Leben als „Schweinereien“ bezeichnet, denen man aus dem Wege gehen müsse.

Wenn man das Dasein der Menschen als ewiges Üben auf dem Weg zum Unwahrscheinlichen beschreibt, kommt man zwangsläufig zu bestimmten Übungsdisziplinen, die Sloterdijk als „philosophischen Mehrkampf“ bezeichnet. Dabei bezieht er sich auf Michel Foucault, der die Philosophie wieder in ihr Recht als erweiterte Lebenshilfe eingesetzt hat. Die dreizehn Disziplinen sind nach Sloterdijk die Akrobatik und Artistik, die Athletik, die Rhetorik, die Therapeutik, die Epistemik (Erkenntnis), die Berufskunde, die „Techniken“-Kunde, die Administrativik, die Ritualistik (Religion!), die Sexualpraxiskunde, die Gastronomik und eine „offene Liste kultivierungsfähiger Aktivitäten“. Dieses „13köpfige Ungeheuer der Disziplinik“ deckt für Sloterdijk das gesamte Feld menschlicher Betätigungen ab. Auf allen diesen Gebieten versucht der Mensch durch ständiges Üben den „Mount Improbable“ zu besteigen. Moralisten, die diese leistungsorientierte Sicht des menschlichen Daseins kritisieren, gehen seiner Meinung nach am Wesen der Dinge vorbei. „Gebirge besteigt man oder lässt es sein, man kritisiert sie aber nicht“!

Die Begriffe „Leidenschaft“ und „Gewohnheit“ sind zwei weitere wichtige Eckpunkte der Argumentation, wobei die letztere „cum grano salis“ das Immergleiche und damit „Schlechte“ meint und „Leidenschaft“ das darüber hinaus Gehende, vom Menschen willentlich Geschaffene. Sloterdijk erläutert dieses Begriffspaar ausführlich von Heraklit bis Heidegger und endet dann bei dem ebenso einprägsamen Begriffspaar „Denken“ und „Wachen“, die den weltabgewandten und den weltzugewandten Zustand des menschlichen Geistes bezeichnen. Von diesen Überlegungen landet Sloterdijk schließlich beim „Basislager“-Denken. Im Bergsteiger-Idiom gilt das Basislager als Startpunkt für die Gipfelbesteigung, Nietzsche hat jedoch in seinem „Zarathustra“ die Erkenntnis formuliert, das die moderne (westliche) Gesellschaft das Basislager, in das sie es geschafft hat, bereits für den Gipfel hält und damit alle weiteren Aufstiege verweigert. Pierre Bourdieu gehört dabei für Sloterdijk zu den philosopischen Wortführern dieser Ideologie, die weitgehend vom Marxismus und ihren intellektuellen Adepten (Frankfurter Schule!) beeinflusst wurden. Demnach gibt es nur ein Basislager auf einer hohen Ebene, das es auszubauen gilt. Weitere Gipfelbesteigungen erübrigen sich mangels Gipfeln, und es geht nur darum, das Basislager sozialgerecht zu gestalten. In diesem Zusammenhang ist es auch üblich geworden, die Bewunderung besonderer Leistungen als Alibi für eigene Untätigkeit einzusetzen.

Einen längeren Absatz widmet Sloterdijk der Pädagogik als einer „Anthropotechnik“. Was in Sonntagsreden unter Theaterdonner verurteilt wird, die „Eugenik“ oder Gestaltung des Menschenmaterials, wird in Wahrheit seit Jahrtausenden in Form der Pädagogik praktiziert, sei es in autoritärer, sei es in libertinärer Form. Doch Ziel der Pädagogik war nach Sloterdijk immer das Transzendente. „Non scholae, sed vitae discimus“ bedeutet im Grunde genommen, mehr zu lernen als für das reine (Über-)Leben erforderlich ist. Das endet zwangsläufig bei der Metaphysik und damit bei Fragen über Leben und Tod. Daher ist auch die Bewältigung des Sterbens für die Vertikalisierung des Lebens das ultimative Ziel. Am Ende steht der unverrückbare Glaube an die Auferstehung, der auf Tertullians paradoxen Satz zurückgeht: „Certum est quia impossibile“ (Es ist sicher, da unmöglich). Dahinter steht die Erkenntnis über die Eigenart jeden Glaubens, die darin besteht, allen Unmöglichkeiten zu trotzen.

Im Kapitel „Übertreibungsverfahren“ setzt sich Sloterdijk mit den Eigenarten und Exzentriken der ernsthaft Übenden auseinander. Dazu gehört der „Spirituelle Sezessionismus“, bei dem sich der Übende aus dem realen Leben entfernt. Sloterdijk entwirft dazu das Bild des Schwimmers, der den dahinströmenden Fluss verlässt und am Ufer die Rolle des Beobachters einnimmt. Das führt zwangsläufig zur „Spaltung des Seienden“, das heißt zu einer Zweiteilung der Gesellschaft in Wissende und Unwissende. Die organisierten Kirchen interpretiert Sloterdijk dabei sogar als Tröster der Zurückgebliebenen. Die Übenden ziehen sich in reale Refugien – Klöster, Wüsten oder Akademien – zurück, in denen laut Sloterdijk der „real existierende Surrealismus“ herrscht, da die Übenden auch hier einer zwar anderen, deswegen aber nicht minder konkreten Realität ausgesetzt sind. Deswegen schafft sich der wahrhaft Übende seine „metaphorische“ oder virtuelle Zufluchtsstätte, etwa in Form von Büchern oder Meditationsübungen. Dieses virtualisierte Eremitendasein mündet dann nach Sloterdijk in der Nutzung alternativer Medien bis hin zu modernen Kommunikations- und Informationsmedien und führt die Sezession damit in letzter Konsequenz ad absurdum.

Weitere Überlegungen gelten der „Geburt des Individuums aus dem Geist der Rezession“, wobei Rezession im weitesten Sinne der Sezession entspricht, dem „Mikroklima des übenden Lebens“ und dem konsequenten Fatalismus als „Absage an die Selbstsorge“. Das Selbstgespräch ist eine Einsamkeitstechnik des sich absondernden Übenden, und die „Inquisition gegen das Ich“, die in gewisser Weise eine Paradoxie darstellt, weil gerade die Sezession eine gesteigerte Ich-Bezogenheit nicht nur als Grund sondern auch zur Folge hat, folgt daraus. Diese versucht der Übende sich später wieder auszutreiben. Die Besessenheit der Übenden kann vor allem in ihrer religiösen Variante zu einem Fanatismus führen – vor allem in monotheistischen Religionen – die Sloterdijk als „Hooliganismus im Namen Gottes“ bezeichnet. Der geradezu paradoxen Ich-Bekämpfung in den religiösen Exerzitien – „der Heilige darf nicht wissen, dass er ein Heiliger ist“ – setzt Sloterdijk schließlich eine Rehabilitation des Egoismus entgegen, den er als das „verruchte Pseudonym der besten menschlichen Möglichkeiten“ bezeichnet.

Ein weiteres Unterkapitel behandelt den „Trainer als Garanten der Übertreibungskunst“, worunter die „Aufrichtung von Leitbildern“ und die Erhaltung der „Überspannung“ zu verstehen ist. Dabei unterscheidet Sloterdijk zehn unterschiedliche Trainertypen: den Guru, den buddhistischen Meister, den Apostel, den Philosophen, den Sophisten, den profanen Trainer, den Handwerksmeister und schließlich die Professoren, Lehrer und Schriftsteller, die ein einigermaßen heterogenes Konglomerat bilden. Alle diese Trainertypen charakterisiert er detailliert in ihrer Art, den Übenden zu unterweisen und ihm das jeweilige Welt- und Selbstverständnis zu vermitteln. Das abschließende Unterkapitel beschäftigt sich schließlich mit Konversionen, wobei Sloterdijk herausarbeitet, dass solche weltanschaulichen Kehrtwendungen eigentlich am Übenden nichts ändern, sondern lediglich seine unveränderten Glaubenssätze auf ein neues Ziel refokussieren. In diesem Sinne ist eine Konversion für den Konvertierenden ein unter Umständen nur marginaler Kurswechsel, obwohl sie für die Umwelt wie ein elementares Ereignis wirken und von den Betroffenen der Konversion aus naheliegenden Gründen auch so bewertet werden. Sloterdijk erwähnt in diesem Fall Spenglers Feststellung, dass Konversionen lediglich „Umbesetzungen zwischen freien Stellen in dem fest strukturierten Optionsfeld einer Kultur“ seien. Letztlich gilt nach Sloterdijk und dem von ihm zitierten Pierre Hadot der Satz: „Alle Erziehung ist Konversion“.

Im letzten großen Kapitel handelt Sloterdijk die „Exerzitien der Moderne“ ab, das heißt die Art und Weise, wie der zeitgenössische Mensch – und das ist im Jahrhundertmaßstab zu denken – die Vertikale zu erklimmen versucht. Unter der selbsterklärenden Überschrift „Die Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts“ zitiert er den großen Pädagogen Comenius, der bereits im 17. Jahrhundert die aktive „Menschenformung“, d. h. Anthropotechnik, propagierte. In der Folge war laut Sloterdijk nicht die von Foucault behauptete Unterdrückung in Gefängnissen sondern die Erziehung in Schulen und Hochschulen maßgeblich an der Formung der Menschen beteiligt. Darüber hinaus spielte das „autoplastische Handeln“, das heißt die Selbstformung, eine wesentliche Rolle, denn der tägliche Umgang mit den Anforderungen des (Über-)Lebens formte den Menschen nach dem Maß der Anforderungen. Das war natürlich nur in einer Welt halbwegs selbstbestimmter Arbeit möglich, also im aufblühenden Bürgertum. Der Mensch, seit der Aufklärung ohne eine absolute transzendente Autorität, verzichtet auf die Angleichung an das Göttliche, setzt sich selbst als das zu perfektionierende Wesen und strebt letztlich den „homo mirabile“ an, den von aller irdischen Welt bewunderten Menschen. Das führt in der Kunst vom „Glauben zum Staunen“, im Spirituellen vom „Beten zum Bewundern“. Die Metaphysik mutiert zu einer „Allgemeinen Immunologie“, bei der die Religion eine Art Versicherung gegen allfällige Schadensfälle darstellt, deren größter der Tod selbst ist. Banal ausgedrückt: Religion wird zur nüchtern kalkulierten Absicherung für ein eventuelles Leben nach dem Tode. Dass dies nicht für jeden „Gläubigen“ der Gegenwart gilt, ist auch Sloterdijk klar, dass jedoch viele vermeintlich religiöse Mensch nur diesem Absicherungsdenken folgen, ohne sich dessen bewusst zu sein, liegt ebenfalls auf der Hand.

In der Moderne wird laut Sloterdijk der Sport zu einer „entspiritualisierten Askese“ und ersetzt damit die jenseitig orientierten Askeseübungen früherer Epochen. Makabrer Höhepunkt der „Kunst am Menschen“, das heißt dessen beliebigen Formung, sind die geradezu zelebrierten Hinrichtungen der frühen Neuzeit – vor und nach 1789 -, die aus der Exekution ein Kunstwerk machten und den Henker zum Künstler erklärten. Stalins und Hitlers Henker verstanden sich vielleicht nicht als Künstler, maßen ihrem „Werk“ jedoch keinen geringeren Wert bei. Auch die Hexenverfolgungen deutet Sloterdijk unter dem Aspekt der „Menschenformung“ neu: vor der Aufklärung benötigten die absoluten Herrscher und die Kirche Untertanen und Gläubige als Zeichen der Macht. Daher bekämpften sie aktive Geburtenregelung mit den schärfsten Mitteln. Die Hebammen mit ihren Schwangerschafts- und Geburtskenntnissen stellten dabei die größte Bedrohung dar und wurden daher systematisch als „Hexen“ denunziert und verbrannt. In diesem Zusammenhang diskutiert Sloterdijk auch die Folgen der „Menschenüberproduktion“. Da die Staaten den Massen der erwünschten Untertanen keine adäquate Ausbildung und Einkommen garantieren konnten, überantworteten sie sie der Armut, der Kriminalität und einem frühen Sozialwesen („Armenhaus“). Im 19. Jahrhundert entstand aus dieser Masse der „Unverwendbaren“ das Industrieproletariat, dem der Marxismus letztlich seinen Aufstieg verdankte. Erst die moderne Pädagogik hat sich nach Sloterdijk dieser Massen angenommen – ursprünglich auf Geheiß des Staates – und arbeitet in subversiver Art gegen dessen Absichten, indem sie einen kritisch denkenden Bürger zu gestalten versucht, der schließlich die Interessen des abstrakten Staates entlarvt und mit den neu erworbenen Mitteln der Bildung unterläuft. Aktuell drängen sich Proteste gegen die Atomenergie und „Stuttgart 21“ als Beispiele dafür auf. Sloterdijk schließt das Unterkapitel über „Kunst am Menschen“ mit der Feststellung, dass die modernen „Menschenausstatter“ nicht mehr mit Visionen und transzendenten Versprechungen locken, sondern ihre „Kunden“ ganz pragmatisch mit Techniken und Hilfsmitteln für den täglichen Konkurrenzkampf fit machen. Am Ende zieht Sloterdijk den Schluss, dass die historischen Antipoden „Herr – Knecht“ und „Kapital – Arbeit“ in die Relation „Gläubiger – Schuldner“ übergegangen sind.

Für Sloterdijk ist Kunst in erster Linie Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit – oder sollte es sein. Einen großen Teil der modernen Kunst betrachtet er jedoch als „maladaptiv“, da sie sich nur noch mit sich selbst anstatt mit der Realität beschäftigt. Selbstreferenz wird zum künstlerischen Maß aller Dinge. Sloterdijk sieht eine Verlagerung der Kunst von der Werkstatt in den Ausstellungsraum, der zum (Selbst-)Zweck der Kunst geworden ist. Und so ist es nur folgerichtig, dass er in Kunstsammlungen und Museen Archive singulärer, „nicht anschlussfähiger“, d. h. aus der Zeit gefallener Produktionen sieht, denen er bewusst den Begriff „Kunstwerk“ vorenthält.

Im abschließenden Rückblick fasst Sloterdijk noch einmal die wesentlichen Punkte seiner Ausführungen zusammen und kommentiert sie aus der Perspektive des Epilogs und damit der erfolgten Rezeption des Lesers. Die großen Linien, die in den Details der vorangehenden fast 700 Seiten bisweilen verloren gegangen sind, treten jetzt in der Komprimierung wieder zutage. Im abschließenden Ausblick wagt Sloterdijk einen eigenen „absoluten Imperativ“, indem er auf die bevorstehenden Katastrophen hinweist – Staatspleiten, Klimawandel, Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, Überbevölkerung, Nahrungsknappheit – und den Imperativ „Du musst dein Leben ändern“ noch einmal wie ein Menetekel geradezu mit Flammenschrift auf die Wand wirft. Doch er verzichtet dabei auf die explizite Nennung der oben beispielhaft genannten Katastrophen, da er deren Kenntnis bei seinen Lesern voraussetzt und sich nicht auf die Ebene des moralischen Oberlehrers hinabbegeben will. Die Aufforderung zur Änderung kommt hier nicht in der aufdringlichen Weise des ökologischen Gutmenschen, der immer auf der richtigen Seite steht, sondern aus dem Munde eines Philosophen, der sich eingehend mit den Kernpunkten von nahezu drei Jahrtausenden menschlichen Denkens auseinandergesetzt hat.

Das Buch „Du musst dein Leben ändern“ von Peter Sloterdijk ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN 978-3-518-46210-2 als Taschenbuch erschienen, umfasst 723 Seiten und kostet 12,95 €.

Frank Raudszus

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