Im kommenden August jährt sich zum achtzigsten Mal der erste – und hoffentlich letzte – Abwurf von Atombomben auf menschliche Siedlungen, der den Städtenamen Hiroshima und Nagasaki traurigen Kultstatus verliehen hat. Der Journalist Arne Molfenter erinnert in seinem Buch, wohl nicht zuletzt aus diesem Grunde, an einen Mann, der gleichzeitig einer der Entdecker und größter Kritiker der Atomspaltung war – den Ungarn Leó Szilárd.
Szilard wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts in wohlhabenden jüdischen Verhältnissen in Budapest auf und begann um 1920 mit einem Technikstudium in Berlin, weil er nach dem Untergang des k.u.k.-Reiches Ungarn nur noch als östliche Provinz empfand. Schon früh zeigte er seine unbekümmerte, fast naive Art, indem er Autoritäten wie seinesgleichen behandelte. So sprach er den an der Universität ehrfürchtig bewunderten Albert Einstein direkt an und verwickelte ihn in Fachdiskussionen. Lange Zeit nahm er morgens und abends den zufällig selben Heimweg mit Einstein, und die beiden entwickelten dabei sogar verschiedene Patente.
Die in dieser Zeit aufkommende Teilchenphysik – etwa Heisenbergs Quantenmechanik – zog ihn schnell zur Physik und weckte sein Interesse an den Vorgängen in den Atomkernen. Molfenter zeigt im populärwissenschaftlichen Schnelldurchlauf, wie Szilárd schon früh auf die Idee kam, Atome zu spalten und dabei größere Energiemengen freizusetzen. Dabei spielte die Entdeckung des Neutrons durch Rutherford und dessen Aussage, dass die Spaltung eines Atoms zwar große Energiemengen freisetzen würde, aber technisch wegen des hohen Energiebedarfs nicht möglich sei, eine zentrale Rolle. Intensives Nachdenken und ein Geistesblitz aufgrund eines Verkehrsstaus weckten dann laut Molfenter die Idee der „Kettenreaktion“ bei Szilárd, die er hartnäckig und gegen alle wissenschaftlichen Bedenken vorantreiben sollte.
Spätestens an dieser Stelle ist zumindest ein Fragezeichen zu setzen, denn Molfenter schreibt zwar flüssig und spannend, doch bewegt er sich dabei eindeutig im spekulativen, wenn nicht fiktionalen Bereich. Immer wieder beschreibt er an zentralen Stellen die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten, die dieser in dieser Form kaum in Tagebücher oder gar Autobiographien niedergelegt haben dürfte. Jedenfalls liegen keine entsprechenden Zitate oder Quellenangaben vor. Das ist natürlich bei einer Biographie nicht illegitim, doch geht es dann nicht mehr um Tatsachen, sondern um eine psychologische Deutung der Person und damit der Ereignisse.
Diese Vorgehensweise hält der Autor bis zum Schluss durch, wenn er über Szilárds Flucht in buchstäblich letzter Minute aus dem „Dritten Reich“ berichtet oder über seine späteren Aktivitäten gegen die Nutzung der Atomenergie – vor allem die militärische. Das liest sich wie ein Roman, und ist es in gewisser Weise auch, obwohl Molfenter die historischen Tatsachen in keiner Weise manipuliert. Doch gerade, wenn es um die wachsende Sorge um die Folgen der Atomspaltung geht, begibt sich Molfenter auf eine Innenschau seines Protagonisten, die er zwar nach bestem Wissen und Gewissen ausgestaltet, die aber mehr oder minder aus Rückschlüssen seiner Handlungen und Reden besteht. Konkrete Zitate existieren kaum und bieten sich daher nicht als Beleg an.
Auch die historischen Tatsachen beschreibt Molfenter korrekt und ohne jeglichen ideologischen Beigeschmack – wenn man die Abneigung gegen die Nutzung der Atomspaltung nicht als solche betrachten will. Das „Manhattan“-Projekt, die Entwicklung der Atombombe als Abschreckung gegen Hitler, schildert er fast wie einen Krimi mit General Groves als „Bösewicht“. Aber auch das ist verständlich, da Groves nun einmal Militär war und eventuelle ethische Bedenken zur Seite schob.
Und so entwickelte sich Szilárds Leben Stück für Stück zu einer bitteren Ironie. Ausgerechnet der engagierte Initiator der Bombe, der sogar Einstein zum Antichambrieren bei Roosevelt gewinnen konnte, verlor mehr und mehr den Einfluss auf das Projekt – wenn er bis auf den Anschub je einen hatte – und wurde schließlich sogar auf unschöne Weise aus dem Projekt hinausgedrängt, das ihm erst als moralische Pflicht und dann als Schreckgespenst vor Augen stand. Und den Abwurf der beiden Bomben erlebte er nur als Zeitungsleser.
Molfenter widmet jedoch auch Szilárds Aktivitäten nach dem Krieg viel Platz, vor allem seinen internationalen Beschwörungen von Politikern und Wissenschaftlern, die Atombombe zu ächten. Unter anderem geht er detailliert auf die Pugwash-Konferenzen ein, bei denen Wissenschaftler über die Zukunft und das weitere Vorgehen zur Verhinderung des atomaren Wettrüstens besprachen. Geholfen haben diese Konferenzen nur insofern, als die Großmächte tatsächlich entsprechende Begrenzungsverträge vereinbarten, aber vernichtet wurden die existierenden Waffen nicht. Als Szilárd 1966 starb, konnte er von diesen Erfolgen nichts sehen, sondern sie nur erhoffen, und der kurz vorher knapp überstandene Cuba-Konflikt hatte der Welt gezeigt, wie knapp es werden kann. Dass heute ein Putin wieder ungeniert nukleare Drohungen ausstößt, würde Szilárd in die Verzweiflung treiben, so kann er sich nur noch im Grabe umdrehen.
Das Buch ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 220 Seiten und kostet 24 Euro.
Frank Raudszus
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