Dieter Thomä: „POST – Nachruf auf eine Vorsilbe“

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Seit nunmehr Jahrzehnten geistert das kurze Wort „post“ als Vorsilbe verschiedenster Epochen und philosophischer Konzepte durch die intellektuellen Diskurse der westlichen Welt. Die geläufigste – aber durchaus nicht einzige oder gar wichtigste – ist dabei wohl die „Postmoderne“, die Vertreter aller Branchen gerne im Mund und in der Feder – bzw. Tastatur – führen. Dabei schält sich immer deutlicher heraus, dass die jeweiligen „Kombi-Begriffe“ nicht mehr erklärt, sondern nur noch benutzt werden. Sie sollen offenbar zeigen, dass der jeweilige Autor sich auf der intellektuellen Höhe der Zeit befindet, oder sie dienen sogar als offene Kampfbegriffe, mit denen man scheinbar gefestigte Weltsichten in die Bedeutungslosigkeit zu verabschieden trachtet.

Der eremitierte Philosophie-Professor Dieter Thomä, von dem wir hier bereit den „Puer robustus“ vorgestellt haben, hat sich nun der Aufgabe gestellt, dieses Dickicht der Bedeutungsverschiebungen zu durchkämmen und schließlich auch zu lüften. Erfreulicherweise geht er diese Aufgabe nicht aus einer ideologischen, etwa einer konservativen oder bewusst „progressiven“ Perspektive an, sondern lässt systematisch wissenschaftliche Rationalität walten.

Das erste, irreführenderweise mit „Einleitung“ übertitelte Kapitel, übersteigt deren typische Eigenschaften jedoch deutlich und stellt im Grunde genommen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Vorsilbe „post“ dar, unabhängig von den vielen im Laufe der Jahre aufgetauchten Hauptworten. Mit über sechzig Seiten fällt die „Einleitung“ entsprechend umfangreich aus.

Ein Aspekt dieses Vorsilben-Phänomens ist für Thomä das „Zuspätgekommensein“ ambitionierter Geisteswissenschaftler. Die Ideengebäude eines Kant oder Hegel, um nur zwei zu nennen, sind in sich einerseits schwer angreifbar und andererseits zielgerichtet, indem beide die Entwicklung der Menschheit zu einer stabilen, vernunftgeleiteten Weltgesellschaft einfordern und auch langfristig erwarten. Nur ihre Begriffe im Sinne von Schülern zu wiederholen und zu verbreiten, kann nicht die Aufgabe ehrgeiziger Weltveränderer sein. also muss man Schwachpunkte der existierenden Denksysteme suchen und anhand dieser ihr Ende prophezeien. Da es zu diesen Systemen jedoch keine anschlussfähige Alternative gibt – Putin oder Trump lassen sich auf dem Ideenmarkt schwer verkaufen -, bleibt man buchstäblich an ihnen kleben und startet die eigenen Denkausflüge von ihnen als Basis. Thomä bezeichnet diese Haltung als „double bind“: die „post“-Theoritiker distanzieren sich von den bestehenden Denksystemen, benötigen sie aber als Ausgangspunkt. Ein Marx konnte den Kapitalismus noch – zumindest theoretisch und rhetorisch – durch den Kommunismus ersetzen, heutigen Intellektuellen fehlen jedoch die großen Alternativen. Sie bleiben in einer Art Hassliebe des „Post“ an die bestehenden Systeme gebunden.

In diesem Zusammenhang präsentiert Thomä auch noch eine Übersicht über konkurrierende Vorsilben wie „Anti“ (faschismus). „Avant-„(garde), „Neo“(liberalismus). „Spät“(kapitalismus) oder „Meta“(beliebig), die er einzeln nach ihren ideologischen und psychologischen Hintergründen untersucht. „Anti“ kennzeichnet den Benutzer als Kämpfer, „Avant“ als Erkunder neuer Welten, und „Neo“ weckt alte Feindbilder. Auf „Spät“ entlädt Thomä sein ganzes Ironiepotential, indem er auf die gut hundertjährige Lebensdauer des „Spätkapitalismus“ verweist, und „Meta“ sieht er als den Versuch, sich per Vorsilbe intellektuell über das Gezänk der niederen Wissenschaften zu erheben.

Nach den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der verschiedenen „Post“-Anwendungsbereiche geht Thomä auf drei Felder gezielt ein: Die „Post-Histoire“, die „Post-Moderne“ und den „Post-Kolonialismus“.

Erstere leitet er ein mit Francis Fukuyama im Jahr 1990 verkündetem „Ende der Geschichte“, die dieser mit dem Sieg der westlichen Demokratie und Marktwirtschaft als gegeben betrachtete. Dass diese Sicht nicht zutraf, stellt Thomä nur beiläufig fest, ihm geht es mehr um die Struktur dieses Denkens, und da wird er bei dem Philosophen Alexandre Kojève (+1968) fündig, der bereits in den dreißiger Jahren das Ende der Geschichte angekündigt hatte. Für ihn waren die Kämpfe des späten 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts nur noch finale Auseinandersetzungen, die schließlich in der Rationalität des Kant´schen Imperativs oder in Hegels Weltgeist enden mussten. Ihm folgte fast deckungsgleich der Deutsche Arnold Gehlen, der nach dem Zweiten Weltkrieg denselben Standpunkt vertrat. Kojève sah den Menschen des 21. Jahrhunderts als befriedetes Naturtier, das natürlich angesichts der „vernünftigsten aller Welten“ keine Revolutionen mehr anzetteln wollte ( und durfte!). Kojève wie Gehlen sahen jedoch diese schließlich sedierte Gesellschaft mit gemischten Gefühlen und sprachen ihr implizit Eigenschaften wie „Langeweile“ oder gar „Repressivität“ zu. Und so kamen beide zu der Überzeugung dass die große Mehrheit der so eingehegten Gesellschaft von einer kleinen Elite gesteuert werden müsste und würde. Wo ihre eigene Position in dieser Zukunft wäre, versteht sich von selbst. Denn beide sahen diese Entwicklung durchaus kurzfristig, d.h. zu ihren Lebzeiten. Thomä erspart sich ein Kopfschütteln über diese so deterministischen wie naiven Zukunftsaussichten und verweist darauf, dass sie nicht zuletzt als Hoffnung nach einem Jahrhundert der Katastrophen zu verstehen waren.

Die „Postmoderne“ in ihrer breiten Vielfalt – Architektur, Literatur, Kunst, etc. – beruht für Thomä mehr auf aktuellen Verhältnissen, vor allem in der intellektuellen Schicht selbst. Ähnlich wie bei der „Post-Histoire“ leidet die gesamte Intelligenz unter der Vorstellung, einem bereits vorgefertigten Weltmodell zu folgen und selbst nur noch kleinteilige Arbeiten übernehmen zu können. Da entdeckt man dann die Partikularität und die Abweichung. Zuerst konstatiert man nur die existierenden Differenzen, dann preist man sie. Die (französischen) Dekonstruktivisten spielen dabei für Thomä ein dezentrale Rolle. Nicht zuletzt die Weltkriege und Genozide sind für diese Denker eine Argument gegen die Lehren der Aufklärung. Das ist zwar ein Widerspruch, denn ein Verstoß gegen eine einleuchtende Lehre fällt nicht dieser auf die Füße, aber das stört die „De(kon)strukteure“ nicht in ihrem Eifer. Die Genugtuung, ein Gebäude zum Einsturz zu bringen, überwiegt alle Bedenken der fehlenden Behausung.

Thomä unterscheidet bei dem von der „Postmoderne“ kritisierten Gebilde vier Bereiche: Die „Moderne“ als historische Epoche, die „Modernisierung“ als Prozess der Erneuerung in Gesellschaft und Wirtschaft, den „Modernismus“ als reine, aktuelle Abgrenzung gegen das Bestehende und die „Modernität“ als eine zeitgemäße intellektuelle Mode. Diesen vier Ausprägungen ordnet Thomä dann entsprechende Varianten der „Postmodernen“ zu. Der Epochensicht entspricht dabei eine Postmoderne, die alte Zeiten wie ein Briefmarkenalbum an- und ablegt und alle vergangenen Katastrophen dieser Epoche zuordnet. Man selbst ist dann entlastet. Allerdings weist Thomä auf die Paradoxie hin, dass die Postmoderne mit der Verschiebung der Moderne aufs Altenteil sich selbst die Existenzgrundlage nimmt, denn – allein ist sie nichts. Mit der weit verbreiteten, teils technophoben Kritik an der „Modernisierung“ von Staat und Gesellschaft verfügt die Postmoderne laut Thomä über kein Alleinstellungsmerkmal. Außerdem trage die flexible Modernisierung des Kapitalismus´ ironischerweise gerade die Züge, die die Postmoderne für sich beanspruche. Beim „Modernismus“ wiederum versuche die Postmoderne in einer Art Überbietungswettbewerb, die Moderne in deren Angriffen auf das „Alte“ noch zu übertreffen, und verliert damit an Glaubwürdigkeit. Noch schlimmer wird es für die Postmoderne als Bewegung, wenn sie gegen die ausschließlich die Aktualität beachtende „Modernität“ antreten soll. Sie muss diese noch übertreffen, weiß aber nicht wie. Thomä vergleicht das mit einem Reiseanbieter, der die aufregendste Reise anbietet, aber nicht sagen kann, wohin es geht.

Insgesamt kritisiert Thomä bei der Postmoderne vor allem die indifferente Beliebigkeit nach dem Motto „anything goes“, die sich hinter Begriffen wie Meinungsvielfalt und Multikulturalität nur verstecke.

Bleibt der dritte Bereich – der Postkolonialismus. Hier betont Thomä vor allem den Moralismus, der von vornherein die ganze Bewegung bestimmt. Dabei bezieht er sich auf den heimlichen „Gründungsvater“ Frantz Fanon, dessen Kampfschriften gegen den kolonialen Westen eine einzige empörte Abrechnung darstellten. Daraus entwickelten die ihm folgenden Theoretiker dieser Denkrichtung die Marschrichtung, den Westen nicht aus seiner kolonialen Vergangenheit zu entlassen, sondern nicht nur Reue, sondern aktive Umkehr und vor allem Wiedergutmachung zu fordern. Zu ihnen gehören etwa Achille Mbembe oder Edward Said, die – übrigens wie Judith Butler – die Hegemonie des Westens wenn nicht gar seine Existenz als „System“ bekämpf(t)en, was sie allerdings nicht daran hindert(e), eben dort zu leben.

Das die koloniale Repression ein schweres völkerrechtliches Vergehen darstellte, ist zwar unbestritten, aber die postkolonialen Denker wollen sich angesichts der andauernden westlichen Dominanz nicht mit einer Historisierung begnügen. Dabei unterscheidet Thomä zwei gegenläufige Bewegungen, die Postkolonialisierung und die De-Kolonisierung. Erstere will die Vergangenheit thematisieren und Unrecht brandmarken, letztere sich auf eine vermeintlich ganzheitliche indigene Vorzeit zurückziehen. Die postkolonialen Denker fordern die tätige Unterstützung des globalen Südens sowie dessen vollwertige internationale Repräsentation ein, wobei sie den Opferstatus dieser Regionen bewusst hervorheben und als noch andauernd bezeichnen. In Wahrheit habe die Kolonisierung gar nicht geendet, sondern werde vom Westen mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln fortgesetzt, um die Abhängigkeitsverhältnisse zu perpetuieren. Die aktuellen politischen Verhältnisse vor allem in Afrika werden dabei ausgeblendet oder die Verantwortung dafür gleich pauschal dem Westen angelastet. Da die postkoloniale Bewegung auch und vor allem eben in den ehemaligen Kolonialmächten aktiv ist – vielleicht aus einer Art Reuegefühl -, bestehen weltweit nur wenig Gegengewichte gegen den Postkolonialismus, und dieser kann sich intellektuell ziemlich frei bewegen.

Allerdings entwickelt sich mit dem de-kolonisierenden Ansatz eine Gegenbewegung, die auf Abgrenzung setzt. In einer Art naiver Regression vermuten gerade in Südamerika viele Aktivisten in der indigenen Vorzeit der Völker das wahre Glück und propagieren die politische und gesellschaftliche Abtrennung vom (kapitalistischen) Westen. Das würde natürlich Wissenschaft und Technik einschließen und schließlich zu tatsächlich „steinzeitlichen“ Verhältnissen führen, was von den Aktivisten sicher so nicht gewollt ist. Doch diese beiden Bewegungen kämpfen jetzt gegeneinander um die Aufmerksamkeit der entsprechenden gesellschaftspolitischen Kreise und mindern dadurch ihre Durchschlagskraft. Ob autoritäre Gesellschaften à la Trump, Xi oder Putin sich darum kümmern werden, darf bezweifelt werden, und so könnte die derzeit starke moralistische Position des Postkolonialismus stark schrumpfen. Da hilft dann laut Thomä auch der Betroffenheitskult dieser Bewegungen nicht viel, der nur noch Betroffene und keine Stimmen aus dem – hegemonialen – Westen mehr zu Worte kommen lassen will. Thomä betrachtet dann noch die hybriden Bewegungen, die westliche Konzepte und Ideen mit indigen Vorstellungen verbinden wollen, doch das droht laut Thomä in einer esoterischen Mystik zu versinken, der geringe Anschlussfähigkeit und weitreichende Indifferenz droht.

Und zum Schluss darf Israel nicht fehlen, das für alle Postkolonialen einen Stachel im Fleisch darstellt. Mit dem größten Vortrag an Leid versehen, schadet Israel dem Opferstatus der ehemals kolonisierten Länder und muss daher zum westlichen Täter umdefiniert werden. Das Palästinenserproblem leistet hier vor allem seit 2023 wertvolle Hilfe. Dabei ergeben sich immer wieder Paradoxien und Widersprüche, wenn Souveränität und Unabhängigkeit leidender Völker eingefordert werden, aber das Existenzrecht von Israel bestritten wird. Doch auch hier verweist Thomä lediglich auf logische Ungereimtheiten, ohne in plakative Polemiken zu verfallen.

Dieses umfangreiche Buch bietet eine Fülle von gut strukturierten Informationen und so stringenten wie konsistenten Ausführungen. Thomä blendet die Widersprüche des Westens nicht aus, aber er beteilgt sich in diesem Buch nicht an dem in gewissen intellektuellen Kreisen üblichen „Westen-Bashing“. Es reicht, wenn das Putin, Xi und deren Freunde tun.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 399 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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