Das Staatstheater Mainz hat sich auf eine ganz ungewöhnliche Art und Weise der uralten Legende von Orpheus und Eurydike angenommen. Statt einer konventionellen Operninszenierung – etwa der von Christoph Willibald Gluck – hat das kreative Regie-Paar Paul-Johannes Kirschner (Musik) und Julian von Hansemann (Szene) eine Art Performance in den Räumen des Landestheaters Mainz zusammengestellt, die neben der eigentlichen Handlung auch musikalische und szenische Elemente ergänzender Art enthält. Dazu führt Vergil selbst in Gestalt des Schauspielers Paul Jonathan Irion in – leicht abgefahrener – heutiger Kleidung und Ansprache durch die einzelnen Handlungsorte. Dafür wird das Publikum in drei Gruppen parallel durch die verschiedenen Lokalitäten geführt, bis sich alle im Untergeschoss des Hades treffen, wo der Underground-Showdown stattfindet.

Der Rezensent darf sich anfangs dem Tenor Yoonki Baek anschließen, der seinen Klavierbegleiter – am rollenden Klavier! – und seine Gruppe mit Orpheus´ Klagegesängen durch die Flure des Landestheaters führt, wo zuerst die Sängerin Samira Schür in raffiniertem Kleid mit virtuellem Faltenwurf in einem Glasrahmen moderne Lautmalereien zu aleatorischer Klaviermusik vorträgt. Weiter geht es zu einem antiken Orpheus-Mosaik im Keller, das der angebliche Ausgrabungsleiter Musaion (Julian von Hansemann) zum Anlass nimmt, in anfangs wissenschaftlichem Tonfall über den frühen Tod seiner Mutter durch einen Schlangenbiss sowie den nur wenig späteren Tod seines Vaters zu berichten, bis ihm angesichts der Erinnerungen die Stimme bricht und er die – vielleicht vom Publikum naiv erwartete – Erklärung des Mosaiks abbrechen muss.
Dann geht es hinaus in den Hof, wo eine einsame Kontrabassistin (Kristina Edin) ein längeres Solo vorträgt, bis sie sich umdreht und die Tänzerin Heide-Marie Böhm-Schütz bei ihrem Tanz hinter einem Fenster im ersten Stock des Museums begleitet. Diese auf Einsamkeit und Entsagung hinauslaufende Szene unterbricht dann der Styx-Fährmann Charon (Axel Heintzenberg) in schwarzer Kutte mit Fackel und düsterem Blick, um das Publikum in das Hotel „Hades“ zu führen, wo der Unterweltsherrscher gleichen Namens als Manager eines absurden Hotels agiert, in dem alles erlaubt und nichts möglich ist.
Die Auseinandersetzung zwischen Hades (Julian von Hansemann) und seiner Frau Persephone um Eurydikes Freigabe verläuft dann wie die üblichen ehelichen Auseinandersetzungen und endet – natürlich – mit Persephones Sieg, den das Titelpaar jedoch letztlich aus bekannten Gründen nicht genießen kann. Es setzt sich auch hier die menschliche Erkenntnis durch, dass die allzu menschliche Sehnsucht nach Auferstehung und Unsterblichkeit an der Realität scheitert. Dazu spielt eine Underground-Band, die der satirisch angehauchten Unterwelt-Szenerie den nötigen Pop- und Jazz-Sound unterlegt.
Am Ende rettet auch diese Inszenierung mit Musik aus sieben Jahrhunderten Eurydike nicht vor ihrem endgültigen Tod, aber tröstet wenigstens das Publikum durch originelle Szenerie und facettenreiche Musik über das traurige Ende hinweg. Schließlich lautet der Untertitel dieser Inszenierung „Die Kunst des Verlierens“, und in diesem Zusammenhang ist auch die Inschrift aus Dantes „Göttlicher Komödie“ auf dem Hadestor zu verstehen: „Die Ihr hereinkommt: Lasset alle Hoffnung fahren“. Man kann diesen berühmten Spruch ausnahmsweise mit einem ähnlichen aus dem Sportlermilieu vergleichen: „Du hast keine Chance. Nutze sie!“. In diesem Sinne hat das Regieteam diese Chance genutzt und gewonnen. Und Orpheus wird hier auch nicht von den Mänaden zerrissen, sondern darf weiterhin so schön singen.
Auf jeden Fall lohnt der Besuch dieser Veranstaltung für alle Theaterfreunde, ob Opernliebhaber oder nicht.
Frank Raudszus
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