Liebesleid und surreale Sehnsucht

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Für das 9. Kammerkonzert hatte das Staatstheaters Darmstadt das „Chorwerk Ruhr“ engagiert, ein international renommiertes Gesangsensemble mit imponierenden Referenzen. Dazu hatte man mit der Stadtkirche Darmstadt eine besonders passende Umgebung ausgewählt, denn hier herrschen ganz andere klangliche Bedingungen als in der während der Restauration des Kleinen Hauses üblichen Orangerie. Der Chor besteht aus jeweils zwölf Frauen und Männern, und die vier Stimmen – Sopran, Alt, Tenor und Bass – sind etwa gleich verteilt.

Unmittelbar vor Beginn verkündete Konzertdirektor Gernot Wojnarowicz eine Umstellung: anstelle Benjamin Brittens „Five Flower Songs“ standen Johannes Brahms „Liebeslieder Walzer“ op. 52 am Anfang, und das erwies sich spätestens nach den danach erklingenden Liedern des Engländers auch für das Publikum als sinnvoll.

Das „Chorwerk Ruhr“

Brahms Liebeslieder sprühen geradezu vor Leben, sowohl in der Freude über als auch im Leiden an der Liebe, und man konnte sich von der ersten Minute an vorstellen, wie in der „vorphonographischen“ Epoche des 19. Jahrhunderts musikbegeisterte Familien um das häusliche Klavier herum gesungen haben, wenn auch im kleineren Rahmen und nicht so professionell wie das „Chorwerk Ruhr“. Das bestach von Anfang an durch die klaren, präsenten Stimmen, deren Ausgewogenheit sowie die sowohl perfekt artikulierte als auch engagierte Interpretation der Brahms´schen Lieder. Das galt für den humoristisch hüpfenden Vortrag im Vogel-Lied (Nr. 6) ebenso wie für den Ärger der missgünstigen Umwelt in „Nein, es ist nicht auszukommen“, in dem vor allem die Soprane der Verstimmung freien Lauf ließen. Und in dem Lied über die „klare Welle“ – Nr. 14 – hörte man es förmlich plätschern. Expressive, lyrische, heitere und nachdenkliche Lieder über die Vielfalt der erotischen Emotionen wechselten sich ab und boten damit eine variantenreiche Palette von Ausdrucksformen. am Flügel begleiteten Philipp Mayers und Sebastian Breuing vierhändig und sorgten für eine solide Klangbasis.

Dagegen standen Brittens „Flower“-Lieder für eine ganz andere Grundstimmung. À capella gesungen, verbreiten sie eine eher spirituelle, fast religiöse Grundstimmung, die nicht von dieser Welt ist. Die musikalisch ausgesprochen raffiniert gesetzten Kompositionen erfordern beim Publikum genaues Hinhören und Einfühlen in die Gesangslinien bis hin zu einzelnen Textworten. Als Einstieg in diesen Abend wären diese Lieder einerseits zu anspruchsvoll und andererseits zu weltfern gewesen. So aber hatte das Publikum schon ausreichend Lebensnähe getankt, um auch diese jenseitigen, wie frühe Kirchengesänge anmutenden Lieder aufzunehmen. Die Pause danach kam gerade richtig, um vor der Kirche wieder etwas Lebensluft zu schnuppern.

Nach der Pause interpretierten die beiden genannten Pianisten vierhändig Edvard Griegs Repertoire-Renner „Hochzeit auf Troldhaugen“, was den beiden die Gelegenheit gab, Ihr Können auch abseits der reinen Liedbegleitung zu beweisen. Und für das Publikum war es eine Auflockerung des ansonsten nur dem Gesang gewidmeten Abends.

Und diese Auflockerung war auch nötig, denn mit Francis Poulencs „Sieben Chansons für gemischten Chor à capella“ ging es in eine surreale, wenn nicht jenseitige Welt der magischen Gefühle. Hier kamen Texte der Symbolisten und Surrealisten Guillaume Apollinaire und Paul Éluard zu Gehör, und die Verse vertiefen sich tatsächlich in eine Welt jenseits der Rationalität, indem sie die vielfältigen, oft kaum benennbaren menschlichen Gefühle ausleuchten. Poulenc hat diese magische Grundstimmung in entsprechende Motive und harmonische Konstellationen umgesetzt, die den Bereich des herkömmlichen Lieds verlassen und ganz allein den einzelnen Gefühlsmoment einzufangen versuchen. Das gelang dem Chor unter der Leitung ihres Dirigenten Florian Helgath hervorragend, wobei die Stimmen des Chors eine polyphone Ganzheit mit ausgewogener Präsenz bildeten. Hier versuchte keine Gruppe zu dominieren, und es geriet auch keine akustisch ins Hintertreffen. Das ist im Chorgesang – wie auch im Orchester – stets die größte Herausforderung und war gerade bei Poulencs Liedern von größter Wichtigkeit.

Den Abschluss bildeten weitere fünfzehn „Neue Liebeslieder op. 65“ von Johannes Brahms, und damit schloss das Ensemble den „Brahms-Rahmen“ dieses Konzertes. Doch bei diesen fünfzehn Lieder ließ Florian Helgath seine Sänger und Sängerinnen ausgiebig ihre Solistenfähigkeiten beweisen, und das taten sie je nach Stimmlage mit strahlendem Sopran, nachdenklichem Alt, klarem Tenor oder souveränem Bass. Es war eine Freude, diesen gekonnt und mit viel interpretatorischem Gefühl vorgetragenen Liedern zuzuhören. Den Abschluss bildete dann Goethes Gedicht „Nun, ihr Musen genug“, das noch einmal den gesamten Chor zu einer „Schlussarie“ forderte.

Das Publikum dankte diesem Ausnahme-Chor für seinen Auftritt mit lang anhaltendem, herzlichem Beifall.

Frank Raudszus

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