Marionette der Mächtigen

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Als der Komponist Alban Berg Anfang der 1920er Jahre Georg Büchners Schauspiel „Woyzeck“ sah, beschloss er umgehend, dieses Werk in eine Oper zu kleiden. Die Premiere im Jahr 2025 polarisierte das Publikum, da die atonale Musik der zeitgenössischen Komponisten – Schönberg, Webern Berg – die Aufnahmefähigkeit zu stark strapazierte. Heute, hundert Jahre später, sieht das zwar etwas besser aus, aber diese Musik gilt immer noch als die nicht unbedingt beliebte „moderne“. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese neue Musik den herkömmlichen musikalischen Regeln abgeschworen hat, die sich über Jahrhunderte als quasi „natürliche“ herausgebildet hatten.

Am Staatstheater Darmstadt hat sich Intendant Karsten Wiegand höchstpersönlich der Inszenierung dieser Oper angenommen, und am Dirigentenpult stand bei der letzten Premiere der Saison GMD Daniel Cohen.

Anne-Fleur Werner und Oliver Zwarg

Wiegand setzt in seiner Inszenierung stark auf Videoeinspielungen. Dabei haben es ihm laut eigener Aussage Wärmekameras angetan, denn ihre Bilder geben die Wärme menschlicher Körper farblich wieder. Da man Wärme bzw. Kälte mit Emotionen assoziieren kann, lassen sich erstaunliche dramaturgische Effekte erzielen. Allerdings lässt Wiegand diese Videoclips insofern manipulieren, als dass er das (warme) Rot der Emotionen in den Kopf der Figuren verlegt, während die restlichen Körperteile sich überwiegend im blauen oder auch grünen Bereich aufhalten. Das fällt dann unter die künstlerische Freiheit gegenüber physikalischen Gesetzen und ist durchaus nachvollziehbar. Für den von seinen Peinigern herumgestoßenen und gedemütigten Wozzeck nehmen diese für ihn denn auch halluzinatorische Gestalt an, und die farblich verzerrten Figuren umtanzen ihn geradezu hohnlachend auf den Wänden rings um die zentrale Bühne.

Diese selbst, gestaltet von Nehle Balkhausen, besteht aus einer bühnengroßen, schräg zum Zuschauerraum abfallende Platte, auf der Wozzeck verzweifelt Halt zu finden sucht. Die Schräge lässt sich als Metapher für das Abrutschen ins Nichts verstehen, und so versucht Wozzeck, gesungen von Oliver Zwarg, immer wieder, einen Platz auf der oberen, besseren Seite des Lebens einzunehmen. Dabei stoßen ihn seine Widersacher verbal wie einen Punchingball zwischen sich hin und her. So wird Wozzeck buchstäblich zur hilflosen Marionette dieser Figuren, die wie statisch an den beiden Seiten aufgereiht sind und sich die ohnmächtigen Abwehrbewegungen Wozzecks gleichgültig bis amüsiert anschauen. Die Inszenierung verzichtet dabei auf jegliche Historisierung und deutet mit den Kostümen auf ein nicht näher definiertes 20. Jahrhundert. Der Tambourmajor (Matthew Vickers) im gut gepolsterten grauen Anzug, der Hauptmann (Peter Lodahl) in einem vage an eine Uniform erinnernden braunen Anzug, der karrierewütige Doktor (Johannes Seokhoon Moon) im eleganten Abendanzug und Marie (Anne Fleur Werner) im roten Abendkleid, das angesichts der schreienden Armut etwas deplatziert wirkt. Doch soll wohl das intensive Rot an das vergossene Blut erinnern. Kammersängerin Katrin Gerstenberger gibt die missgünstige Margret.

Oliver Zwarg

So taumelt dieser Wozzeck zu der intensiven Musik aus dem Graben von einer Demütigung zur nächsten. Während er versucht, mit teils absurden Arbeiten – in gewissem Sinne Prostitution – Geld für Frau und Kind herbeizuschaffen, verguckt sich seine Marie in den forschen Tambourmajor. Der Hauptmann schimpft Wozzeck einen unmoralischen Menschen, und der Doktor unterzieht ihn gegen ein Almosen unmenschlichen Experimenten. All diese Schläge gegen das Selbstbewusstsein spiegeln sich in der Musik, die auf jegliche tonale Themen verzichtet und stattdessen nur die jeweiligen emotionalen Schläge intoniert. Die rasende Eifersucht des nur noch in Maries Liebe seinen Lebenssinn sehenden Wozzeck spürt man förmlich in den grellen Ausbrüchen der Blechbläser, und die demütigenden Tritte gegen sein Selbst finden ihre musikalische Entsprechung in den Schlägen verschiedener Schlaginstrumente, ohne dass diese Instrumentennutzung leitmotivisch zu verstehen wäre. Hier zählen keine harmonischen oder thematischen Bögen, sondern nur die klangliche Wiedergabe des seelischen Moments.

Das gilt natürlich auch für den Gesang, der nicht in einer irgendwie gearteten Liedform daherkommt, sondern als gesungener Text in dem Sinn, dass die Stimmformung der Bedeutung der einzelnen Worte im Satz folgt. Die Sätze werden also im engeren Sinne nicht gesungen, sondern (a)tonal modelliert. Als Zuhörer muss man das herkömmliche Opernwissen vergessen und sich ganz dem klanglichen Augenblick hingeben. Doch auch bei diesem Klang geht es nicht um Schönheit oder Originalität, sondern ausschließlich um die Umsetzung der chaotischen Situation im Kopfe dieses ganz unten auf der sozialen Leiter stehenden Opfers, das sich selbst keine „schönen“ Gedanken mehr leisten kann. Und so kommt es zwangsläufig zum finalen Mord an Marie. Dass Wozzeck selbst am Ende ertrinkt, spielt dann keine Rolle mehr, da er selbst schon innerlich tot war.

Anne-Fleur Werner

Doch Karsten Wiegand interessiert an dieser scheinbar zwangsläufigem Ablauf die Frage, ob auch ein anderes Ende möglich wäre. Dazu müsste Wozzeck die Möglichkeit eines klaren Gedankens haben, die er laut Georg Büchner nicht haben kann. Wiegand jedoch lässt die letzte Szene noch einmal – wie im Traum – ein zweites Mal durchspielen. Hier wirft Wozzeck die Tüte mit dem Mordmesser weg und flieht, woraufhin Marie das Messer über die leere Bühne schleudert. Das wäre die Alternative, doch Wiegand leitet sie nicht logisch aus einem nachvollziehbaren Gedanken ab, sondern aus einem Momententschluss, der vielleicht einem moralischen Aufwallen, vielleicht aber auch nur totaler Überforderung zu verdanken ist. Der Rest ist Raten.

Die bei Büchner noch herkömmliche Handlung wird in dieser Inszenierung unter Verzicht auf die üblichen Interaktionen bewusst auf einzelne Sätze und dessen Wirkungen verkürzt. Dadurch wird die Isolation Wozzecks um so eindringlicher, da ihn seine Umgebung nicht mehr als – wenn auch unterlegenen – Gesprächspartner oder gar Mitmenschen betrachtet, sondern eher als einen klinischen Fall, den man begutachtet und gegebenenfalls entsorgt. Das geht natürlich auf Kosten einer üblichen Dialoghandlung, die stets ein gewisses Miteinander widerspiegelt, und beinhaltet die Gefahr einer als Längen empfundenen Handlungsarmut. Doch diesem Risiko begegnet einerseits Oliver Zwarg, der seiner Figur immer neue Emotionen verleihen kann und das sowohl stimmlich als auch darstellerisch bis zum vollen Körpereinsatz umsetzt, und andererseits das Orchester unter Daniel Cohen, das die durchaus nicht einfache Musik Alban Bergs mit markanter Interpretation aber auch erstaunlicher Transparenz zum Klingen bringt. Als Zuhörer gewöhnt man sich an diese Art nicht-tonaler Musik und entdeckt sie im Laufe des Abends als Deutungsmuster der psychischen Situation Wozzecks. Irgendwann drängt sich sogar die Assoziation an Sisyphos auf, da auch Wozzeck immer wieder versucht, den Stein seines Lebens auf den sozialen Berg zu hieven, nur, um wieder abzustürzen. Doch im Gegensatz zum Mythos kennt die Realität statt der Ewigkeit nur ein schreckliches Ende.

Kinderchor

Bleibt noch der Chor zu nennen, der einen eher knappe Auftritt hat, diesen jedoch exakt und stimmstark absolviert. Der Kinderchor setzt dann mit dem fast schon allegorischen Hinweis auf das Schicksal des Waisenkindes einen ambivalenten Schlusspunkt, den man als Hoffnungsschimmer, aber auch als Zukunftsskepsis verstehen kann.

Nach dem Verklingen der letzten Töne aus dem Orchestergraben benötigte das Publikum mehrere Sekunden Zeit, um sich des Endes dieser existenziellen Aufführung bewusst zu werden. Dann jedoch brachen jubelartiger Applaus einschließlich „Bravo“-Rufen aus. Bei der Präsentation des Ensembles erntete das gesamte Ensemble bis hin zu der Regie einhelligen Beifall.

Frank Raudszus

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