Prima facie – optime!

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Um gleich im Wortbild dieses Theater-Titels zu bleiben: „optime“ ist nicht der Ablativ wie bei „facie“, sondern der Vokativ, den die Römer als besondere emotionale Betonung einer Aussage benutzten. „Prima facie“ ist der Titel des Theaterstücks der australischen Britin Suzie Miller und bedeutet soviel wie „auf den ersten Blick“. Im engeren juristischen Sinne gilt dieser Ausdruck daher als „Anscheinsbeweis“, eben, was sich auf den ersten Blick als Erklärung so anbietet.

Man könnte diesen neunzigminütigen Monolog einer Strafverteidigerin eine autofiktionalen Roman nennen, war Suzie Miller doch lange als Strafverteidigerin vor allen in Fällen sexueller Übergriffe tätig; doch das bedeutet natürlich nicht, dass auch der im dem Stück konkret verhandelte Fall auf Millers eigenes Privatleben zurückverweist. Es heißt aber auch nicht, dass dieser Fall „frei erfunden“ wäre, denn seine Entwicklung liegt derart nahe, dass man ihn leider fast zwangsläufig nennen könnte.

Emily Klinge im „Käfig“

Das Stück beginnt mit einem Videoclip auf den drei Innenwänden der U-förmigen Bühnenkonstruktion, in dem eine junge Frau (Emily Klinge) sichtbar geschockt von einem gewaltsamen Geschlechtsakt mit einem Kollegen erzählt. Der Boden des Bühne ist von einem etwa meterhohen Gerüst aus Eisenstäben bedeckt, dass wie ein – eindeutig metaphorischer – Käfig anmutet. In diesem Käfig ihres traumatischen Erlebnisses sieht man – erst spät! – Emily Klinge sich „live“ in den schrecklichen Erinnerungen zu winden.

Irgendwann befreit sie sich aus den ebenfalls metaphorischen Fesseln ihres schrecklichen Erlebnisses, zieht sich etwas über und beginnt, sich dem Publikum auf einem kleinen Podest als eine kontrollierte junge Frau zu präsentieren. Sie stellt sich als junge, begabte Strafverteidigerin vor, die in einer angesehenen Anwaltskanzlei für Fälle sexueller Nötigung zuständig ist. Mit nur leicht ironisiertem Stolz berichtet sie von ihren Strategien und Taktiken, die weiblichen Opfer der sexuellen Übergriffe zu verunsichern und ihre Glaubwürdigkeit systematisch zu untergraben, und erreicht auf diese Weise fast immer den Freispruch ihrer männlichen Mandanten.

Parallel dazu verläuft mit gleitenden Übergängen die Handlung um ihren eigenen, aktuellen Fall. Entsetzt hat sie den – anfangs nur Julien genannten – Vergewaltiger bei der nächsten Polizeistation angezeigt und zitiert die peinlich genauen, skeptischen Fragen der Beamten. Bereits hier spürt man den weit verbreiteten Verdacht, dass Frauen den vermeintlichen „Opfervorteil“ für gezielte Diffamierung nutzen könnten. Der besondere Effekt in diesem Stück liegt darin, dass Tessa, so der Name der jungen Frau, schon jede Frage samt dem ermittlungstaktischen Hintergrund aus eigener Erfahrung kennt und bereits den Ausgang des Verfahrens ahnt.

Emily klinge beim „Selfie“

Und so springt der Monolog dann auch gleich zwei Jahre weiter zur Gerichtsverhandlung, denn in Tessas Kopf ist alles gleichzeitig präsent: der Vorfall, die Anzeige und das zweijährige Spießrutenlaufen durch ihre eigene Selbstbefragung, die Kanzleiumgebung und die Öffentlichkeit.

Emily Klinge gelingt es auf beeindruckende Art, die unterschiedlichen emotionalen Befindlichkeiten ihrer Figur mit schnellen Wechseln und Brüchen darzustellen. Da zeigt sie sich in einem souveränen Auftritt mit Robe und Perücke als gerissene, mit allen Wassern gewaschene Verteidigerin und gleichzeitig dem Publikum, wie das so abläuft bei der Verteidigung eines angeblichen Vergewaltigers; und Besucher der ersten Reihe müssen sogar – passiv – als Richter, Zeuge und Angeklagter mitspielen. Dann wieder erinnert sie sich an lange Arbeitsabende in der Kanzlei, die dann in ein Schäferstündchen mit Julien auf der Couch des Arbeitszimmers münden. Wie sie dann erfolgreiche Freisprüche ausgelassen feiert – Emily Klinge erweist sich dabei als gute Pop-Sängerin – und unter viel Alkohol mit Julien in die besagte schlimme Nacht im eigenen Bett abrutscht. Dabei durchläuft Tessa alias Emily Klinge alle emotionalen Stadien von Stolz und Selbstbewusstsein über erotische Anziehung und Erregung bis hin zum alkoholischen Exzess und zur totalen Selbstentäußerung, bis sie dann die – im wahrsten Sinne – nackte Gewalt einholt.

Schließlich bettet Tessa alias Emily Klinge die Fragen von Juliens Verteidiger in ihre eigenen Reflexionen der Enttäuschung ein, und als Zuschauer hört man die scharfen Nadelstiche der Fragen wie von ferne durch das wütende Verlangen nach Gerechtigkeit durch und ahnt mit Tessa, dass es mit dem Prozess kein gutes Ende nehmen wird.

Erschöpft vor Enttäuschung

Aber darum geht es in diesem Stück nicht so sehr. Miller klagt nicht die Gerichte an, sondern die folgenlose Willkür der Männerwelt. In der Gestalt der Tessa zeigt sie die Ohnmacht der Frauen, die gerade aufgrund des juristischen Grundsatzes „in dubio pro reo“ bei geschickter Verteidigung keine Chance auf Gerechtigkeit haben. Denn in fast allen Fällen handelt es sich um reine Zweiersituationen ohne Zeugen, wo Aussage gegen Aussage steht. Suzie Miller klagt letztlich die Gesellschaft an, die in der Erziehung versagt und sexuelle Übergrifflichkeit immer noch – wohl auch durch die überwiegend männliche Justiz? – relativiert, wenn nicht marginalisiert.

Am Ende bittet Emily Klinge dann all diejenigen, die bereits von einem solchen Übergriff in ihrer Umgebung erfahren haben, aufzustehen, und höchstens ein Drittel des Publikums bleibt sitzen. Das schockt und setzt diesem eindringlichen und in jeder Hinsicht überzeugenden Theaterabend einen im wahrsten Sinne des Wortes denkwürdiges Ende. Eben „optime“ – und auch „secunda facie“!

Nach dem Verlöschen des Lichtes sprang das rings um die Bühne angeordnete Publikum spontan auf und spendete nicht enden wollenden, begeisterten Beifall. Die von der eineinhalbstündigen Parforce-Tour sichtlich gezeichnete Emily Klinge strahlte ob dieses Erfolges.

Frank Raudszus

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