Alex Schulman: „Vergiss mich“

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Alex Schulman ist uns aus seinen autofiktionalen Romanen schon sehr bekannt. Nun ist 2025  im dtv-Verlag mit „Vergiss mich“ das vierte Buch von Schulman auf Deutsch erschienen. Auf den ersten Blick ist es irritierend, dass der Autor hier offenbar vieles noch einmal aufgreift, was er in den Romanen schon erzählt hat. Tatsächlich ist es anders. Die Chronologie der deutschen Ausgaben weicht von der Reihenfolge der Originaltexte ab.

Der jetzt vorliegende Text „Vergiss mich“ ist der erste der vier Bände, auf Schwedisch bereits 2016 erschienen.  Darauf folgte 2018 der autofiktionale Roman „Verbrenn all meine Briefe“ (deutsche Erstausgabe 2023), in dem Schulman sich mit echten Namen mit der Geschichte seiner Großeltern mütterlicherseits auseinandersetzt.

Erst mit „Die Überlebenden“, 2020 in Schweden erschienen, 2022 dann auf Deutsch, verlässt er die autofiktionale Ebene und entwirft einen eigenen Familienkosmos, der allerdings viele Elemente der autobiographischen Erfahrungen verarbeitet. „Endstation Malma“, auf Schwedisch 2022, auf Deutsch 2024 erschienen, verlässt dann den offensichtlichen autobiographischen Hintergrund, wieder aber geht es um zerstörerische familiäre Strukturen. Allen Familiengeschichten ist gemein, dass zentrale Lebensbedingungen in der Familie tabuisiert sind und verschwiegen werden.

Schulmans Buch „Vergiss mich“ ist kein Roman,  vielmehr ist es eine Auseinandersetzung des 30-jährigen Autors mit der Zerstörung seiner Familie durch die Trunksucht der Mutter. Das vom Vater auferlegte Schweigegebot liefert die drei Söhne den völlig unberechenbaren Reaktionen der Mutter aus. In vielerlei Hinsicht erscheint das Buch als Vorarbeit zu dem großen Roman „Die Überlebenden“.

Schulman versucht zu ergründen, wo der Ursprung für das Abdriften der Mutter in den Alkohol liegt, jedoch ohne eine Antwort zu finden. Ihn quälen seine ambivalenten Gefühle der Mutter gegenüber. Als kleines Kind hat er sie als tröstende, liebevolle Mutter erfahren, die Wärme und Geborgenheit geben konnte, als Erwachsener empfindet er oft Ekel und Hass. In den Jahren seiner frühen Kindheit erlebt er die Beziehung der Mutter zu dem etwa 30 Jahre älteren Vater als liebevoll und innig. Die schleichende Veränderung verwirrt die Kinder, wenn die Mutter sich tagelang in ihrem Schlafzimmer einschließt und auf jede Störung äußerst aggressiv reagiert. Sie terrorisiert die Kinder und den Vater durch Nichtachtung und durch Schweigen. Alex ist offenbar der Jüngste der drei Söhne, den sie mit besonderer Zärtlichkeit bedacht hatte. In ihrer krankheitsbedingten Aggressivität und Ich-Bezogenheit hat sie für ihn eine besondere Strafe gefunden: Sie blickt an ihm vorbei und nimmt ihn gar nicht zur Kenntnis. Er muss dann raten, womit er ihre Zurückweisung heraufbeschworen hat.

Das ganze Familienleben ist darauf ausgerichtet, es der Mutter nach Möglichkeit recht zu machen, der Vater ermahnt die Söhne ständig, „lieb“ zu sein. Nach außen wird geschwiegen.

Wie später in „Die Überlebenden“ ist das typische schwedische Sommerhaus  an einem See  in Värmland ein Ort der äußeren Idylle, der aber die inneren Spannungen der Familie nicht ausgleichen kann. Das Sommerhaus ist wie ein Hoffnungsort, der jedoch jedes Jahr eher zu einem Ort der Katastrophe wird.

Der erwachsene Alex stellt sich die Frage der Schuld des Vaters oder auch der heranwachsenden Söhne: Warum hat niemand etwas getan, warum hat niemand die Notwendigkeit der Einweisung in eine Klinik gesehen?

Der Vater erstarrt in Hilflosigkeit, hofft offenbar, sich die Liebe der viel jüngeren Frau erhalten zu können, wenn er sie gewähren lässt. Möglicherweise sieht er sich auch selbst als mitschuldig, denn auch in guten Zeiten  ist Alkohol der ständige Begleiter des Paares  gewesen. Er selbst ist eine instabile Persönlichkeit, die zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigt.

Die  drei Söhne ziehen sich als Kinder vor den Ausbrüchen der Mutter zurück, immer im Bemühen, die Liebe der Mutter nicht zu verlieren. Dieses Verhaltensmuster zieht sich durch bis ins Erwachsenenalter. Noch die über 30-jährigen Söhne schrecken vor direktem Ansprechen des Themas Alkohol zurück. Der erwachsene Alex entdeckt in sich selbst immer noch das Kind, das zwischen Hass und Liebe gegenüber Mutter hin- und hergerissen ist.

Viel zu spät überwinden die Söhne ihre Angst und lassen der Mutter Hilfe zukommen, was sie auch akzeptiert. Hat sie vielleicht 30 Jahre lang darauf gewartet?

Wenn auch Alex die eigentliche Ursache für die Trunksucht der Mutter nicht herausfinden kann, so ergeben sich aus seinem Rückblick doch einige Vermutungen. Sie ist offenbar eine exzellente Rhetorikerin, schreibt glänzende Texte in ihrem Beruf, ist anerkannt und erfolgreich. Sieht sie die Familie mit drei Kindern als Einengung ihrer Möglichkeiten? Ist die Liebe zu dem älteren Mann früh verflogen? Das würde ihre ambivalenten Verhaltensweisen erklären. Aber auch der Hinweis auf die Erfahrung als ungeliebtes Kind in einem emotional vergifteten Elternhaus bietet einen Erklärungsansatz. Es ergibt sich das Bild einer innerlich zerrissenen, verzweifelten Frau, die sich wohl nach Liebe sehnt, sie aber immer weniger geben kann.

Für Schulman ist dieses Buch offenbar wichtig gewesen, um sich aus dem Schweigen herauszulösen und sich über die eigene Bedingtheit klar zu werden. Eine Erkenntnis dabei ist, dass wir in die eheliche Beziehung unserer Eltern nie wirklich Einsicht gewinnen können. Zu kurz ist die Zeit, die wir bewusst mit ihnen verbringen, zu wenig können wir über deren Zeit vor uns herausfinden.

Als Vorstudie zu seinen weiteren literarischen Arbeiten ist dieses sicher ein wichtiger Text, das Thema „Familie“ wird Schulman erst einmal nicht loslassen. Auch dieser erste Text ist von großer Eindringlichkeit. Es ist schon erkennbar, wie gekonnt Schulman Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen kann. Immer wieder holt ihn die Kindheit ein, und zwar sowohl in der Beschwörung schöner und inniger Momente als auch in der Erinnerung an traumatische Situationen.

 So sehr ich als Leserin Schulmans poetische Kraft schätze, so wünsche ich mir doch, dass er nach „Endstation Malma“ von 2024 (bzw. 2022) sein Themenspektrum erweitert. Seine Familiengeschichte und auch das Sommerhaus kennen wir nun hinreichend.  

Dennoch ist „Vergiss mich“ für Schulman-Freunde eine lohnenswerte Ergänzung seines literarischen Spektrums.

Alex Schulman, Vergiss mich. dtv Verlagsgesellschaft 2025, übersetzt aus dem Schwedischen von Hanna Granz, 253 Seiten, 23 Euro.

Elke Trost

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