Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ stand im Staatstheater Darmstadt zum letzten Mal vor elf Jahren auf dem Programm, weswegen wir hier auf die Nacherzählung der Handlung verzichten und auf unsere damalige Rezension verweisen. Die neue Inszenierung von Philipp Preuss verzichtet weitgehend auf die rationale Präsentation einer nachvollziehbaren Geschichte und verlegt den Ort der Handlung in den Kopf des Protagonisten Josef K., der sich mit einer geradezu surrealistischen, mit kausal-logischen Denkmustern nicht bewältigbaren Situation konfrontiert sieht.
Schon Kafka hatte mit dem Roman weniger auf eine Kritik der k.u.k.-Bürokratie abgezielt als vielmehr seine eigene – gefühlte – Lebenssituation spiegeln wollen. Kafka sah die Welt nicht in erster Linie mit seinen Augen und seinem – juristisch geschulten! – Verstand, sondern mit den als traumatisch empfundenen Erfahrungen seines dreißigjährigen Lebens, und verarbeitete in diesem Romanfragment vermeintliche Schuldvorwürfe, empfundene Schuldhaftigkeit und existenzielle Machtlosigkeit.
Philipp Preuss löst Handlung sowie Personaltableau von Beginn an auf und verteilt die Rollen des Josef K. sowie der anderen Personen auf ein sechsköpfiges Ensemble, wobei er bewusst – wie auch im Programmheft zu sehen – auf feste Rollenzuordnungen verzichtet. Aaron Eichhorn, Laura Eichten, Sebastian Graf, Niklas Herzberg, Karin Klein und Sebastian Schulze – letzterer zu Beginn zwecks leichterer Einordnung als Josef K. – spielen abwechselnd alle Figuren, oder besser gesagt „Bilder“, denn Kafkas Romanpersonen sind eher Vorstellungen im Kopf des Protagonisten Josef K. bis hin zu seiner eigenen. K. kennt sich selbst genauso wenig wie die Menschen seiner Umgebung, und selbst seine eigene Person bleibt weitgehend im Vagen. Eltern gibt es nicht mehr, die Geliebte ist eher eine Prostituierte, und Freunde im bürgerlichen Sinne existieren auch nicht. Die Welt existiert letztlich nur in seiner Vorstellung.
Solche Vorstellungen ohne konkretisierte Gestaltung verhalten sich volatil und können sich mit den Umständen ändern. Also löst Preuss die Handlung in eine nahtlos durchlaufende Szenenfolge von Eindrücken und vor allem Worten auf. Dabei steht natürlich der Romantext im Mittelpunkt, jedoch nicht im Sinne einer auch nur rudimentären Lesung, sondern in der fast schon expressionistisch zu nennenden Folge von zentralen Textstellen, die mal solo, mal im Chor entweder herausgestoßen, geflüstert, deklamiert oder geschrien werden. Stets geht es dabei um die unbewusste Wirkung der jeweiligen Situation, die sich einerseits in den Worten, andererseits in den Emotionen widerspiegelt.
Zur Bebilderung der mehr oder minder bewussten Vorstellungen setzt Preuss intensiv auf Videotechnik (Béla Salli Conteh, Jan Heck). Noch vor Beginn zeigt ein Video auf der gerundeten Außenseite des eisernen Vorhangs „live“ von oben die von Sara Aubrecht als bürokratische Schreibtischsammlung angeordnete Bühne mit umhergehenden Personen. Später erscheinen im Vordergrund – auf einem Gaze-Vorhang – oder auf der Bühnenrückwand durchgehend Großaufnahmen der jeweils agierenden Darsteller oder ganze Gesamtszenen auf und hinter der Bühne. Dabei spielen die weitverzweigten, verschlungenen Gänge des Staatstheaters eine zentrale Rolle, denn sie bieten sich geradezu als Assoziation einer so unverständlichen wie unerbittlichen Bürokratie an. Diese intensive Bildershow inszeniert die Vorstellungen und Empfindungen, die sich im Kopf der Hauptperson abspielen und dabei von ungehaltener Verwunderung bis zu ungreifbarem Grauen steigern. Die Konfrontation mit einer allmächtigen aber intransparenten Gerichtsbarkeit überfordert die menschliche Ratio und führt buchstäblich zum sich stetig bis zur Resignation steigernden Chaos im Kopf. Die Parallele zur christlichen Vorstellung der menschlichen Sündhaftigkeit und unvermeidlichen Verdammnis liegt dabei auf der Hand, wenn auch Kafka als Jude dieser Assoziation nicht gefolgt sein mag.
Die Kostüme von Eva Karobath übernehmen die Ambivalenz der Bühne und deuten Rollen und Zeit nur an. So kann Sebastian Schulze als Josef K. im hellen Anzug auftreten, doch dann verhaften ihn zwei eher als Clown-Derivate kostümierte Wächter. Die zunehmende Verunsicherung und Traumatisierung des Josef K. schlagen sich in immer fremdartigeren Kostümen nieder und weisen ihre Träger als drohende oder abstruse Gestalten aus. Darüber hinaus „hängen“ diese Gestalten im Hintergrund herum und wirken von dort mehr als implizite, weil nicht zu fassende Drohung.
Mit zunehmender Spieldauer treten die beiden Parabeln des „Gesetzes“ und des „Türhüters“ in den Vordergrund und werden förmlich als Choreographien vorgetragen. Das zeigt einerseits die Bedeutung, die Preuss diesen Texten zumisst, weist sie andererseits aber auch als die zentralen Punkte des Romans aus, um die sich die gesamte Handlung rankt. Deshalb stellt Preuss sie auch immer stärker in den Vordergrund und verleiht ihnen durch die darstellerische Ausgestaltung besonderes Gewicht.
Am Ende kommt es- im Zusammenhang mit der Figur des Malers Titorelli – noch zu einer buchstäblichen „Weißwaschung“ in Gestalt einer Choreographie des gesamten Ensembles, die man als Metapher für die am Ende vorherrschende Sehnsucht des Josef K. nach Befreiung von der Schuld verstehen kann. Diese Szene vermittelt noch einmal ein so eindrucksvolles wie aussagestarkes Bild der ausweglosen Situation.
Da es im Roman weniger um eine schlüssige Handlung als um die obsessive Traumatisierung durch eine unverständliche Welt von Schuld und Verdammung geht, stellt sich schon dort ein ostinater Wiederholungseffekt ein. Man könnte der Regie diese sich auch in der Bühnenfassung niederschlagende Wiederholung zum Vorwurf machen und eine Kürzung einfordern, denn tatsächlich dreht sich hier vieles im Kreise. Doch gerade diese Forderung würde das Theater auf ein konsumierbares Unterhaltungsmedium reduzieren. Daher sehen wir auch die Länge dieser Inszenierung von etwa zweieinhalb Stunden als richtig und notwendig an, weil sie zumindest ein wenig die Not und Qual des Josef K. vermittelt, der mit diesen kreisförmigen, eine logische Entwicklung bewusst negierenden Geschehnissen konfrontiert ist. Für die Besucher sind es nur zweieinhalb Stunden mit wiederkehrenden „Zumutungen“, für Josef K. ist es ein sich zur Unendlichkeit dehnendes Jahr. Insofern war der am Ende der Einführung vom Schauspieldirektor ausgesprochene Wunsch für einen „schönen Theaterabend“ nicht zutreffend. Eigentlich hätte er „viel Leid und Schrecken“ empfehlen müssen.
Frank Raudszus
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