Mahlers Sechste – das ist der Hammer!

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Zum Schluss der Konzertsaison spielte das Orchester des Darmstädter Staatstheaters unter der Leitung von GMD Daniel Cohen Gustav Mahlers sechste Sinfonie als abendfüllendes Alleinprogramm.

Das Werk entstand in den Jahren 1903/04, was – wie auch das Programmheft betont – Spekulationen über eine Vorahnung der Schrecken des Ersten Weltkrieges erledigen sollte. Vor allem der über die ersten beiden Sätze dominierende Marschrhythmus sowie Emotionen des Aufruhrs und der Trauer hatten diese Vorstellung lange Zeit gefördert. Man kann solche Überlegungen aber auch von einer anderen Seite anstellen: Der Marschrhythmus nicht als Warnung vor dem bevorstehenden Krieg, sondern einfach als Spiegelung der musikalischen Realität. Anfang des 20. Jahrhundert besaß das Militär sowohl in Preußen als auch in Österreich-Ungarn einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert, und Marschmusik erklang aller Orten und zu allen Zeiten. Was lag da also näher, dass auch Mahler deren Eigenarten in seine Werke aufnahm, wobei eine kritische Haltung auch ohne dystopische Ahnungen naheliegt.

Das Orchester des Staatstheaters Darmstadt (Quelle: Homepage des Staatstheaters)

Ähnliches gilt für die das Stück durchziehenden Trauer-Motive, die man gerne auf den Tod seiner beiden Kinder zurückführt, obwohl die erst einige Zeit nach der Entstehung der Sinfonie starben.

Der Kopfsatz beginnt mit einem Marsch, dem die Kontrabässe eine drohend-dunkle Färbung verleihen. Es folgen Fanfaren der Trompeten und lyrische Auftritte von Flöten und Klarinetten, und der Marsch verflüchtigt sich zugunsten eines melancholischen Gestus. Im weiteren Verlauf des ausgesprochen komplexen Satzes wechseln sich markige Marschpassagen mit „wehsüchtigen“ – um hier eine passende Wortschöpfung zu wagen – Passagen ab, die sich vor allem durch ihre vielfältigen Klangkombinationen auszeichnen. Hier feiert die Spätromantik mit einem fast schon mystisch zu nennenden Klangrausch noch einmal Triumphe. Ein Trauermarsch zieht kurz am musikalischen Publikum vorbei, nur, um einem langgezogenen, mit Emotionen und Dynamik aufgeladenen Finale Platz zu machen, das den Satz nach einer knappen halben Stunde beendet. Schon in diesem Kopfsatz war das Orchester gefordert, mussten doch alle Klangmischungen sowohl hinsichtlich der Transparenz als auch des jeweiligen emotionalen Ausdrucks sorgfältig austariert werden.

Der zweite Satz, ein Scherzo, folgt weiterhin der Marschmetrik, jetzt aber im 3/4-Takt. Gleich zu Beginn folgen hier mit Pauken und Flöten Kontraste aufeinander. Dann schleppt sich der 3/4-Takt eine Zeitlang mit bewusster Retardierung dahin, was emotionale Verunsicherung zum Ausdruck bringt, um sich dann mit steigendem Tempo metrisch nahezu aufzulösen. Jetzt wechseln sich Tempi und Dynamik unter Verwendung immer wieder variierter Motive in kurzen Abständen ab, nur, um dann plötzlich einer lyrischen Einlage von Flöte, Klarinette und Oboe zu weichen. Mehr und mehr lässt dieser Satz die existenzielle Verunsicherung des „Fin de Siècle“ erkennen, die sich aus dem raschen Voranschreiten der Industrialisierung und dem Verschwinden scheinbar sicherer Wahrheiten ergab. Daniel Cohen gelang es zusammen mit dem Orchester auf beeindruckende Weise, diese schwebende Unsicherheit einer ganzen Epoche zum Ausdruck zu bringen.

Der langsame Satz – Andante – zeichnet sich durch eine durchgehende Gebärde der Sehnsucht aus, die sich aus dem Hintergrund des zweiten Satzes fast zwangsläufig ergibt. Auch damals gab es schon das Schwelgen in der vermeintlich „guten alten Zeit“, die man sich zurückwünschte. Ein Horn-Solo bringt diese Grundstimmung treffend zum Ausdruck, und später folgen Flöte und Oboe mit ähnlichen Passagen. Diesen Satz prägen vor allem die emotionale Intensität sowie seine innere, um nicht zu sagen „introvertierte“ Dramatik und Dichte.

Der Finalsatz weckt in den ersten beiden Takten fast Erinnerungen an die Walzerzeit, um dann aber schnell in eine lauernd abwartende Dramatik überzugehen. Der Aufschrei des Orchesters wirkt dabei fast ziellos und spiegelt damit die existenzielle Verunsicherung einer ganzen Generation, die den alten Konventionskanon ad acta legte, ohne einen neuen zu haben. Diese Musik veranschaulicht eine weit verbreitete Gemütslage, die selbst einen – kurzen! – Krieg dem gefühlten Stillstand vorzog. Nach dem Durchwaten eines tiefen Tals der Trauer sorgt das wieder aufscheinende Marschmotiv für Zerrissenheit, und absteigende Passagen verbreiten eine dystopische Stimmung. Schließlich gipfelt die motivische Kakophonie im wahrsten Sinne mit einem Hammerschlag, der hier in Gestalt eines realen, überdimensionierten Holzhammers den Staub der Zivilisation bzw. des diese repräsentierenden Tisches aufwirbelt. Dieser Schlag löst einen orchestralen Aufruhr mit Crescendo und wilder Dynamik aus, aus dem das Zwiegespräch von Horn und Klarinette wie eine Insel der Seligen herausragt, das von Flöte und Oboe fortgesetzt wird. Nach dem schlichten Liedmotiv der Oboe steigert sich das Orchester wieder in einer langen Phase zu einem vielschichtigen, klangreichen Finale, das sich zum Ende hin in eine Andeutung von friedvollem Einverständnis verwandelt. Doch noch einmal steigert sich das musikalische Geschehen zu einem komplexen Klangraum unterschiedlichster, widerstreitender Emotionen mit kraftvollem Einsatz der Pauken, ehe der Satz in resignativer Stille verklingt.

Daniel Cohen und dem Orchester ist es mit dieser Interpretation gelungen, das europäische Selbstverständnis des frühen 20. Jahrhunderts in all seiner Widersprüchlichkeit und existenziellen Verzweiflung auferstehen zu lassen. An diesem Werk und seiner Intonation lässt sich exemplarisch zeigen, dass Musik Emotionen zum Ausdruck bringen kann, die sich der sprachlichen Darstellung entziehen – und dennoch hat der Rezensent versucht, eben dieses mit Worten zumindest anzudeuten. Ob es gelungen ist, sei dahingestellt.

Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete langen, mit „Bravo“-Rufen durchsetzten Beifall. Dass der Orchestervorstand das letzte Konzert der Saison dazu nutzte, eine langjährige Flötistin in den Ruhestand zu verabschieden, war dann das „i-Tüpfelchen“ auf diesem denkwürdigen Konzertabend.

Frank Raudszus

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