Der Untertitel dieses Buches lautet „Bach und das Geheimnis der >>Kunst der Fuge<<“ und verweist damit sowohl auf die Spezialität als auch auf die Komplexität dieses Buches. Johann Sebastian Bachs Werkliste endet mit dem Eintrag BWV 1080; höhere Einträge stammen aus späteren wissenschaftlichen Arbeiten, deren Ergebnisse man ans Ende gestellt hat. Den eigentlichen Abschluss des Gesamtwerks bildet die „Kunst der Fuge“ mit dreizehn „Contrapuncti“ aufsteigender Komplexität (BWV 10180), vier Kanons und dem Fugenfragment 1080/19, dem noch ein Nachsatz von Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel über den während der Erstellung dieses Werks eingetretenen Tod seines Vaters folgt.
Die Nachwelt hat sich mit diesem Fragment wegen seiner Komplexität und bestimmter anderer Faktoren intensiv beschäftigt, und der Autor geht auf die unterschiedlichen Theorien detailliert ein. So wird – nur in dieser Fuge – gegen Ende das Thema B-A-C-H eingeführt, dessen Weiterführung jedoch zu größeren musikalischen Problemen geführt hätte. Einige Vermutungen verweisen auf eine geplante Quadrupelfuge, andere deuten sogar auf eine gewisse Sackgassensituation hin. Auf jeden Fall steht hinter diesem letzten Werk ein großes Fragezeichen, und die Fachwelt betrachtet das abschließende Choralvorspiel weitgehend als „Zugabe“ der posthumen Herausgeber eben wegen dieses Fragments.
Meinolf Brüser jedoch räumt mit diesen teilweise gegenläufigen Spekulationen gründlich auf und stellt ihnen einen in sich geschlossenen Deutungsansatz entgegen. Dabei geht er streng logisch im Sinne eines indiziengesteuerten Beweises vor, bei dem er jede der Alternativdeutungen mit den von ihm gesammelten Indizien konfrontiert und eindeutige Widersprüche zutage fördert.
Brüsers Hypothese läuft daraus hinaus, dass Bach besagtes Fragment von vornherein als solches geplant habe, und zwar schon gut ein Jahr vor seinem Tod, als er schon einmal schwer erkrankt war. Daraufhin habe er in einer Geste christlicher Demut das Fragment verfasst, um daran die Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit des Menschen zu zeigen. Eine Fertigstellung im Sinne einer vollendeten Fuge war also demnach nie geplant.
Diese gewagte These hinterlegt Brüser mit einer Reihe stichhaltiger Indizien. Da ist zum Einen das „B-A-C-H“-Thema, dass Bach laut Brüsers Recherchen schon vorher des Öfteren vor allem in Musikstücken anlässlich familiärer Trauerfälle verwendet habe. Parallel dazu spielt für Brüser die Zahl 14 eine wichtige Rolle, die gleichzeitig die Summe der Alphabetpositionen des Namens „BACH“ (2,1,3,8) sowie die Quersumme des Abbruchtaktes – 239! – ist. Das könnte man noch als wissenschaftsferne „Spinnerei“ belächeln, wenn Bach eben dies gematrische Spiel nicht schon vorher des Öfteren gespielt hätte. Ob albern oder nicht: Bach hat es offenbar gern gespielt.
Ein genauer Blick auf die letzte Seite des Fragments zeigt für Brüser klar den exemplarischen Charakter dieser handschriftlichen Aufzeichnung. Was der Fachwelt lange als Zeichen eines krankheitsbedingten Verfalls der händischen Fertigkeiten galt, ist für Brüser eine bewusst zugerichtete Fehlerhaftigkeit, denn vor allem die Rasterung der Notenzeilen ist nicht zittrig und ungenau, sondern im Sinne eines heutigen „Fakes“ so gezielt wie exakt abgewandelt worden. Es soll Unvollständigkeit zum Ausdruck bringen, das aber deutlich und unmissverständlich.
Doch diese Indizien reichen Brüser – natürlich – nicht. Akribisch hat er die teilweise gelöschten Paginierungen der wichtigsten Stücke der „Kunst der Fuge“ untersucht, und daraus nicht nur zwingend geschlossen, dass besagtes Fragment schon über ein Jahr vor Bachs Tod entstand, sondern dass Bach auch bereits die Druckreihenfolge vorgesehen und wieder geändert hatte. Musikalische Übergangszeichen am Schluss des Fragments verweisen dabei auf einen Kanon statt auf das letztlich dort positionierte Choralvorspiel.
Diese Verweise geben nur einzelne, besonders aussagekräftige Argumente wieder. Brüser hat die gesamte Entstehungsgeschichte der „Kunst der Fuge“ en detail untersucht und dabei vor allem die letzten Stücke betrachtet. Unter anderem hat er dem erwähnten Choralvorspiel den Titel „Vor Deinen Thron tret´ ich hiermit“ statt des ursprünglichen „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ gegeben, für Brüser ein weiteres Beispiel für den besonderen Charakter des auch in Bachs ursprünglicher Druckversion eng mit dem Choralvorspiel verbundenen Fragments.
Die von Brüser vermutete Demutsgeste passt für ihn auch mit dem „Vanitas“-Gedanken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zusammen. Diesem Gedanken widmet er ein ganzes Kapitel, das unter anderem auch auf den üblichen Selbstbezug in den Vanitas-Gemälden in Gestalt von Selbstportraits im Bild verschiedener Maler verweist. Dem eigenen Portrait in der Hand des sich portraitierenden Malers entspricht bei Bachs Fragment das Thema B-A-C-H in verschiedenen Variationen.
Dieses Buch bringt offensichtlich ein kompliziertes Gerüst aus Spekulationen und Theorien aus zweieinhalb Jahrhunderten zum Einsturz. Es wird spannend sein zu beobachten, wie die Fachwelt auf dieses Buch reagiert, das sich statt auf „positive“ Beweise lediglich auf eine stringente Kette von Falsifikationen aller alternativen Theorien stützt. Das ist ganz im Sinne der naturwissenschaftlichen Forschung, und man darf gespannt sein, inwieweit die Musikwelt diese Vorgehensweise akzeptiert.
Der Rezensent sieht sich bei diesem Buch nicht als kompetenten „Kritiker“, sondern als staunenden Leser, der interessierten Lesern dieser Zeilen lediglich den Inhalt des Buches möglichst fehlerfrei vortragen möchte. Er hofft, dass ihm dies gelungen ist.
Das Buch ist im Bärenreiter-Verlag erschienen, umfasst 177 Seiten und kostet 39,99 Euro.
Frank Raudszus
No comments yet.