Ocean Vuong: „Der Kaiser der Freude“

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„Der Kaiser der Freude“, erschienen 2025 in den USA und ebenfalls 2025  auf Deutsch im Hanser Verlag, ist der zweite Roman des vietnamesisch-amerikanischen Schriftstellers Ocean Vuong (geb. 1988 in Vietnam). Ocean Vuong blickt auf eine wechselvolle Familiengeschichte zurück. Da seine Mutter die Tochter eines US-Soldaten und einer vietnamesischen  Mutter war, wurde die Familie nach  Ende des Vietnam-Krieges wegen der Mischehe der Großmutter diskriminiert. Die Familie entschloss sich zur Flucht zunächst auf die Philippinen und von dort aus in die USA, wo sie sich in Hartford, Connecticut, niederließ. Ocean ist der erste, der dem Analphabetismus der Familie entrinnen konnte. Er wurde zunächst bekannt für seine Lyrik, ein erster Roman erschien 2019 in den USA. Ocean Vuong lehrt heute an der New York University als Professor für kreatives Schreiben.

Der Roman „Der Kaiser der Freude“ erzählt die Geschichte zweier Familien mit sehr unterschiedlichem Migrationshintergrund. Die Hauptfigur ist der 19-jährige Hai, dessen Familie aus Vietnam stammt. Dieser Strang des Romans hat deutlich autobiographischen Hintergrund. Gleichzeitig ist er eine späte Hommage an die Großmutter und auch an die Mutter, die beide trotz widrigster Umstände ihren Weg in den USA gemacht haben. Der zweite Handlungsstrang erzählt die Geschichte einer Familie, die aus Litauen stammt, der Besetzung durch die Nazis standhalten musste und schließlich vor der Roten Armee über Deutschland(!) und London in die USA fliehen konnte. Im Gegensatz zu der vietnamesischen Familie ist die litauische Familie sehr gebildet, assimiliert sich entsprechend gut in der amerikanischen gutbürgerlichen Gesellschaft. Die Handlungsebene des Romans bezieht sich auf den Zeitraum vom Frühjahr 2009 bis zum Frühjahr 2010. Ein zentrales Anliegen von Ocean Vuong ist die Entlarvung des amerikanischen Traums als falsche Verheißung. Amerika ist nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten für alle.

In beiden Familien gibt es Abgründe, die mit Fortschreiten der Erzählung klar werden.

Die Verknüpfung der beiden Familiengeschichten ist das Ergebnis einer zufälligen Begegnung zwischen dem 19-jährigen Hai und der 80-jährigen Grazina.

Der Roman beginnt mit der Schilderung der Trostlosigkeit der Kleinstadt East Eaglewood in der Nähe von Hartford, Connecticut. Mit dieser Stadt geht es offenbar bergab, alle öffentlichen Einrichtungen sind heruntergekommen, es scheint, dass die äußeren Bedingungen jegliche Initiative der Einwohner ersticken. East Eaglewood, die Stadt mit dem anspruchsvollen Namen, ist ein Gegenbild des amerikanischen Traums.  

Hai ist als Sohn seiner alleinerziehenden, vietnamesisch-amerikanischen Mutter in East Eaglewood aufgewachsen. Nach vielversprechenden schulischen Leistungen hat er ein Stipendium für das College der NYU erhalten. Aber er kann die Erwartungen nicht erfüllen, bricht das Studium ab und kehrt tablettenabhängig zu seiner Mutter zurück. Um sie nicht zu enttäuschen, sagt er ihr nichts davon, stattdessen gibt er vor, einen Studienplatz für Medizin an der Universität in Boston erhalten zu haben. Er inszeniert seinen Aufbruch so glaubwürdig, dass die Mutter keinen Verdacht hegt. In Wahrheit begibt er sich in eine Einrichtung der Drogenhilfe, die von Nonnen betrieben wird und jedem offen steht. Als er nach ein paar Wochen als stabil entlassen wird, hat er keinen Ort, an den er sich begeben kann.

An dieser Stelle setzt die Erzählung seiner Geschichte ein, die Hintergrundinformationen erhalten wir als Leserinnen erst später. Er irrt durch den abendlichen Ort, bis er an eine Eisenbahnbrücke kommt, die als der „letzte Weg aus der Stadt“ gilt. Ganz spontan kommt ihm die Idee, einfach über das Geländer zu klettern und in den Fluss zu springen.

Das beobachtet zufällig die alte Grazina. Ihr gelingt es, ihn vom Sprung abzuhalten, und bittet ihn in ihr Haus. Nun entwickelt sich eine anrührende Beziehung zwischen der alten Frau und Hai, der irgendwo zwischen Jugend und Erwachsen-Sein steckt. Grazina lebt allein in einem heruntergekommenen Haus, der Mann ist lange tot, es gibt Hinweise auf eine Tochter, von einem Sohn ist nie die Rede. Grazina bietet Hai an, bei ihr zu leben, wenn er ihr dafür im Alltag zur Seite zu steht. Für Hai wird bald klar, dass Grazina auf dem Weg in die Demenz ist. Aber umso mehr fühlt er sich für sie verantwortlich. In ihren klaren Zeiten erweist sie sich als gebildete und lebenskluge Frau, in ihren verwirrten Phasen taucht sie ab in ihre Kindheit und Jugend in Litauen, erlebt wieder und wieder die traumatischen Momente der Bedrohung durch Nazis und Soldaten der Roten Armee. Hai bringt die Erfahrung mit seiner altersverwirrten vietnamesischen Großmutter mit, so dass er sich immer besser auf Grazinas Verwirrtheit einstellen kann und mit ihr auf die verschiedenen Zeitreisen geht. Es ist wunderbar erzählt, mit welcher Fürsorge er sich auch auf die körperlichen Schwächen der alten Frau einstellen kann.

Nachdem er ihr gestanden hat, dass er Schriftsteller werden will, führt sie ihn in den riesigen literarischen Fundus, den ihr Mann hinterlassen hat. Für Hai ist das der Weg in die Literatur, „Die Brüder Karamasow“ werden zu seinem Lieblingsbuch. Sie drängt ihn gleichzeitig, sich der Realität zu stellen und sich einen Job zu suchen. Er findet ihn in einer Fast-Food-Kette, die vorgibt, alles frisch herzustellen. Hai wird hier mit der Welt der industriellen Warenproduktion konfrontiert, die aus Profitinteresse die Kunden hinters Licht führt. Hier wird nichts frisch hergestellt, im Gegenteil. Auch die Begegnung mit einer Farm, auf der Schweine angeblich biologisch im Freiland gehalten werden, macht ihm die Scheinheiligkeit dieses Anspruchs klar. Die Tiere werden gegen alle Regeln des Tierschutzes auf engstem Raum eingepfercht, allerdings stehen diese Pferche unter freiem Himmel.

Er selbst ist jedoch auch Teil dieser Welt der Täuschung, indem er den Betrug an seiner Mutter durchhält, wenn auch aus Rücksicht, wie er glaubt. Auch auf anderer Ebene spielen die Menschen ein Spiel. So weiß seine Mutter nicht, dass ihre Schwester wegen Betrugs (!) im Gefängnis sitzt. Diese Tante wiederum lässt ihren autistischen Sohn glauben, dass sein Vater noch lebt, indem sie selbst Briefe des angeblich noch lebenden Vaters schreibt. Das Spiel wird noch verzwickter, wenn eben dieser Sohn das Spiel mit seiner Mutter nur mitspielt, um sie nicht zu enttäuschen. Die Beziehungen der engsten Familienmitglieder sind so eine große Scharade.

Dennoch ist auch einiges echt im Leben dieser Menschen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem Fast-Food-Markt sind alle vom Leben Abgehängte, werden diskriminiert, wurden verlassen, haben ein Kind verloren, und dennoch haben sie den Glauben an eine bessere Zukunft nicht verloren. Sie durchschauen den Schein und die Verlogenheit der Welt um sie herum, umso mehr sind sie untereinander solidarisch auf zutiefst menschliche Art.

Hais Begegnung mit diesen Menschen eröffnet ihm stets neue Einblicke in das Leben. Über Grazina erfährt er Zusammenhänge der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die ihm von seiner asiatischen Herkunft her ganz fremd sind. Das Team im Markt führt ihn aus der abgekapselten Welt der asiatischen Familie heraus und zeigt ihm die negativen Seiten des amerikanischen Versprechens. Es interessiert niemanden, wie es den Menschen geht, Wettbewerb und Profitinteresse stehen an erster Stelle.

Ein besonderer Erzählstrang bezieht sich auf die Geschichte seines Cousins Sony, der mit einem Wasserkopf geboren wurde und nach zahlreichen Operationen als eingeschränkt gilt. Er erweist sich jedoch als typischer Autist, der auf einem Gebiert besondere Fähigkeiten entwickelt. Ihn fasziniert die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs, insbesondere die Rolle des Generals Lee, der trotz absoluter Unterlegenheit weiterkämpfte und unnötig den Tod Tausender Soldaten in Kauf nahm.

Ocean Vuong entwirft einen Kosmos des American Way of Life, der auf den jungen Hai einstürzt und ihn auf den Weg ins Erwachsen-Sein führt. Immer wieder bewegt ihn die Frage der Menschlichkeit, wenn er erlebt, wie die Menschen mit der Schöpfung umgehen. Haben auch Schweine eine Seele, spüren sie, wenn sie so grausam behandelt werden? Und was ist mit den Verschwörungstheorien seiner Kollegin Maureen, die ernsthaft davon überzeugt ist, dass die Dinosaurier überlebt haben und nun aus unterirdischen Bereichen die Menschen regieren und manipulieren, sie also zu Marionetten machen?

Ocean Vuong mutet uns Leserinnen und Lesern durchaus etwas zu. Wir müssen den Zeitsprüngen folgen, Abtauchen in Erinnerungen erkennen, bisweilen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Der Roman hat zwar durchaus einige Längen, das aber ist verzeihlich angesichts der Fülle der Themen und der Komplexität der Darstellung.

Dass es auch Hoffnungsschimmer in dieser Welt gibt, zeigt ein doch versöhnlicher Schluss, wenn auch Hais weitere Entwicklung offen bleibt.

Ein unbedingt lesenswertes Buch, für das man sich allerdings etwas Zeit nehmen muss.

Ocean Vuong, Der Kaiser der Freude. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl und Anne-Kristin Mittag. Hanser Verlag 2025, 524 Seiten, 27 Euro.

Elke Trost

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