Die Famile des Barons Lázár lebt auf einem ungarischen Waldschlösschen. Man speist von Herend-Porzellan, und in den weiten Räumen des Anwesens hängen die Portraits der vorangegangenen Generationen. Der Baron geht seinen Geschäften nach, während seine Frau Maria in dauernder Anspannung lebt und sich schon morgens nach dem Aufstehen ihre Unterarme ritzt, um zu spüren, dass sie noch lebt.
Auf diesem Adelssitz bringt Maria ihren Sohn Lajos zur Welt. Maria wirkt nach Geburt des zarten Kindes nicht besonders freudig, sondern fühlt sich wie durch schwere Steine in die Matratze hineingezogen und wünscht sich eher, still aus dem Leben zu scheiden. Auch der Baron ist nicht glücklich, sondern fühlt einen Riss, der sich in ihm auftut und Panik in seinen Körper strömen lässt, als ob er die Zukunft vorausahne.
Lajos ist das Ergebnis einer Liebesaffäre Marias mit dem Reitknecht. Lange schöpft der Baron keinen Verdacht, obwohl der Kleine niemandem aus der Familie ähnelt, aber Maria lebt in der ständigen Angst, dass der Betrug eines Tages auffliegt.
Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, und es deutet sich schon in den ersten Kapiteln ein Epochenwechsel an. Ende des 19. Jahrhundert beginnt sich der Untergang des Habsburger-Reiches und damit der Machtverlust und Reichtum der alten ungarischen Adelsfamilien abzuzeichnen. Waren die Vorfahren noch bedeutende Barone der k.u.k-Monarchie, wendet sich das Schicksal dieser alten Adelsfamilien mit der untergehenden alten Welt Europas. Der Roman beginnt um die Jahrhundertwende und spannt sich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Ungarn unter sowjetische Herrschaft gerät und – hier am Beispiel der Lázárs – alles verliert: ihre Immobilien, ihre Möbel, ihren Schmuck, ihre Berufe. Sie werden entweder vertrieben, ermordet oder zwangsweise ins Bergwerk unter Tage geschickt, wo sie zehn Stunden am Tag arbeiten müssen. Bildung zählt hier nicht mehr, stattdessen geht es nur noch ums Durchhalten und Überleben.
Doch was ist der Mensch, wenn ihm seine komplette Vergangenheit und Kultur entzogen wird? Eine arme, nackte Gestalt, die nur noch ums Überleben kämpft. Um nicht in den sowjetischen Folterkellern zu verenden, entschließen sich Pista, der Enkel der Lázárs, und seine Freundin Eva, nach Jugoslawien zu fliehen und von dort aus in die Schweiz zu emigrieren.
Wenn man bedenkt, dass der Autor erst 22 Jahre alt ist, erstaunt doch der beeindruckende Blick auf eine ganze Epoche der europäischen Geschichte. Biedermann beschreibt die Mitglieder der ungarischen Adelsfamilie mit ausgeprägtem Gespür sowohl für die Zeit der k.u.k-Monarchie als auch für die kurze deutsche und die lange sowjetische Besatzung. Als Leser taucht man in die Welt der Lázárs ein und erliegt dem Sog dieser vielschichtigen Familiengeschichte.
Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 316 Seiten und kostet 24 Euro.
Barbara Raudszus
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