Das Museum Reinhard Ernst (mre) in Wiesbaden hat sich der modernen Kunst verschrieben, wie der Namensgeber und Gründer bei der Eröffnung kundtat. Die erste Sonderausstellung danach war der US-amerikanischen Künstlerin Helen Frankenthaler (1928 – 2011) gewidmet, und nun hat das Museum aus dem reichhaltigen Fundus des Museums zu dieser Künstlerin eine zweite Ausstellung zusammengestellt, die ihren Einfluss auf die aktuelle Kunst im deutschsprachigen Raum zeigen soll. Dazu hatte man drei zeitgenössische Künstler eingeladen: die Berlinerin Jenny Brosinski (*1984), die Düsseldorferin Ina Gerken (*1987) und den Schweizer Adrian Schiess (*1959). Alle drei durften je einen Raum mit einer frei gewählten Mischung aus eigenen Werken und solchen von Helen Frankenthaler gestalten. Zusätzlich versammelte die Museumsleitung alle angesprochenen Künstler mit einer zusätzlichen Werkauswahl in dem „Dom“, einem zentralen, lichtdurchfluteten Raum mit kirchenähnlicher Spitzkuppel.
Nun hätte man annehmen können, dass die drei Auserwählten sich um bestimmte Arbeiten Helen Frankenthalers streiten oder zumindest konkurrierendes Interesse anmelden würde. Doch nach Aussagen der Museumsleitung verlief die Auswahl der Arbeiten weitgehend einvernehmlich, was für oftmals mit starkem Ego ausgestattete Künstler doch ein Kompliment darstellt. Hier scheint es sich um drei sehr kooperative Vertreter der Gattung „Künstler“ zu handeln.
Adrian Schiess vertritt die Grenzenlosigkeit der künstlerischen Arbeit, d. h. weder Rahmen noch Leinwand sollen dem entstehenden Werk Grenzen setzen. Scherzhaft zitierte er die Feststellung, es sei schon fast eine kriminelle Handlung, wenn ein Künstler Leinwand und Rahmen kaufe. Seine Bilder entstehen grundsätzlich in der Horizontalen auf dem Boden, und besonders wichtig ist für ihn der Lichteinfall, der den Farbkombinationen zu jeder Tageszeit andere Stimmungen entlockt. Ein Teil seiner Arbeiten besteht aus unregelmäßig geformten Malunterlagen – keine Leinwand! -, die er mit einem frei gestalteten Farbauftrag versieht und für die es (fast) keine Hängevorschriften gibt. Lediglich klar erkennbare gerade Kanten sollten entweder waagerecht oder senkrecht angeordnet werden, ansonsten gibt es weder oben und unten noch links oder rechts. Wichtig ist nur die Wirkung der Farbe und die Korrespondenz mit der Umgebung, seien es leere Flächen oder andere Werke. Adriam Schiess erklärte sein Konzept vor den Pressevertretern wortreich und vielen Anmerkungen zu den Details der Anfertigung und der Wirkung.
In dem nächsten Raum stellte dann Jenny Brosinski ihre Werkauswahl vor, wobei sie im Gegensatz zu Adrian Schiess detailliert auf den Vorbildcharakter und die optische Korrespondenz mit den ausgewählten Bildern Helen Frankenthalers einging. Für sie ist die „negative Form“ – die freien Flächen in einem Bild – von ausschlaggebender Bedeutung. So berichtete sie von einer Phase heftig übermalter Bilder mit mehreren Farbschichten, die ihr letztlich ein derartiges Unbehagen bereitete, dass sie die Bilder kurzentschlossen zu einem Industrie-Waschsalon brachte und sie dort gründlichst „reinigte“. Danach habe sie wieder ruhig arbeiten können, und von Helen Frankenthaler habe sie gelernt, wie wichtig leere Flächen in einem abstrakten Bild sind. Die Farbflächen bauten zusammen mit den Leerstellen eine starke Spannung auf, wobei diese nicht von selbst entstehe, sondern durch entsprechende Farbwahl und Anordnung bewusst erzeugt werden müsse. Sie habe sich dabei intensiv mit Helen Frankenthaler auseinandergesetzt, und sie verwies dazu auf die ausgewählten Bilder des Vorbilds und zeigte auf die Ähnlichkeiten auf. Dabei betonte sie, dass es hier nicht um die Kopie einer Maltechnik gehe, sondern lediglich um die Anregung durch ein existierendes Werk, das sich auf ihre eigene Arbeit positiv auswirke.
Ina Gerken verfolgt einen zu Jenny Brosinski diametralen Ansatz, indem sie ihre Bilder zu Farb- und Figurendschungeln macht. Dabei verfolgt sie keinen figurativen Ansatz, geschweige denn will sie eine Geschichte erzählen. Die Anordnung von Flächen, Farben und Figuren folgt keinem inhaltlichen Plan, sondern in erster Linie der Wirkung der Farben, die sich natürlich mit der Art der Bildelemente ändert. Starke Farbflächen enthalten eine ganz andere Aussage als schmale Linien, seien es gerade oder gekurvte. Als Betrachter versucht man dann automatisch, hinter den verschlungenen Farbfiguren eine figurative Bedeutung auszumachen, aber diese ist dann eine reine Interpretationssache und hat nichts mit der Absicht der Künstlerin zu tun, wie sie selbst eindeutig zum Ausdruck brachte. Allerdings gestand sie dem Betrachter im Gespräch ausdrücklich diesen Wunsch nach figurativer Deutung zu – im Sinne der Kunstfreiheit und frei nach dem alten Motto, dass die Kunst im Auge des Betrachters entstehe.

Anschließend stellte der Museumsdirektor Dr. Kornhoff noch den vom Museum gestalteten Raum 4 vor und verwies dabei auf die vielfältigen Anregungen, die Helen Frankenthaler auf die Werke der drei Kunstschaffenden ausgeübt habe. In diesem Raum sind alle vier noch einmal aufeinander bezogen, wobei aus der Zweierbeziehung der anderen Räume eine komplexe Korrespondenz zwischen den Arbeiten von vier eigenständigen künstlerischen Personen entsteht. Denn hier spricht nicht nur je eine künstlerische Person mit einer Ideengeberin, sondern hier redet schweigend jedes Werk mit jedem anderen. Als Betrachter kann man diesen Beziehungspfaden folgen und die jeweils übertragenen Inhalte entschlüsseln – wenn man über die Geduld, die Einfühlung und ein gewisses Grundwissen verfügt. Alle drei Kompetenzen kann man sich jedoch in den Räumen des mre aneignen. Fangen Sie an!
Frank Raudszus
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