Ist das Kunst oder Sport?

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Das „Tanzfestival Rhein-Main“, einst vom Darmstädter Intendanten Karsten Wiegand mitgegründet, feiert dieser Tage sein zehntes Jubiläum. Zu diesem Anlass erschien zur Eröffnung der diesjährigen Veranstaltungsreihe Wiegand selbst auf der Bühne und – nein, er tanzte nicht! – hielt eine kurze Eröffnungsrede, in der er vor allem den wichtigsten Sponsoren und den wichtigen Persönlichkeiten hinter den Kulissen dankte. Anschließend stellten sich die Kuratoren Alexandra Hennig, Bruno Heynderickx und Anna Wagner vor, die ebenfalls allen Beteiligten dankten und sich mit einem „Selfie vor Publikum“ verabschiedeten.

Bedeutung und Erfolg dieses Festivals zeigten sich deutlich darin, dass das Große Haus des Staatstheaters Darmstadt zur Eröffnung ausverkauft war, ebenso die Wiederholung am folgenden Tag. Man kann davon ausgehen, dass viele Liebhaber des Tanztheaters aus dem weiteren Umfeld des Rhein-Main-Gebietes angereist waren.

Ensemble: Fliegende Menschen

Freunde des Tanztheaters wissen, dass diese Kunstgattung schon lange an der Grenze zum Extremsport angesiedelt sind. Weit mehr als im klassischen Ballet sind hier körperliche Fähigkeiten aller Art bis hin zu extremer Kondition und körperlicher Risikobereitschaft gefordert. Der Eröffnungsabend mit der französischen Truppe „Compagnie de Chaillot“ und dem Choreografen Rachid Ouramdane zeigte dies in aller Deutlichkeit, indem er mit der Produktion „Corps extrêmes“ Akrobatik und Extremsport auf die Bühne brachte. Der Titel stellt diese Tatsache noch einmal explizit heraus: „extreme Körper“.

Die Rückwand der ansonsten leeren Bühne (Sylvain Giraudeau) des Großen Hauses ist als weiße Kletterwand gestaltet; dazu zieht sich hoch oben am Bühnenhimmel ein Drahtseil von links nach rechts. Dann erscheint auf der weißen Rückwand ein Film, der den französischen Hochseilkünstler Nathan Paulin bei der Überquerung einer so schrecklich breiten wie tiefen Schlucht – Gorges du Vendon? – zeigt. Für den normalen Menschen ist bereits der bloße Anblick des einsamen Menschen auf dem dünnen Seil über diesem Abgrund eine Zumutung, an die man sich erst gewöhnen muss. Denn man versetzt sich zwangsläufig in die Situation des Hochseilkünstlers und setzt sich damit zumindest einem virtuellen Schwindelgefühl aus.

Nathan Paulin spricht dazu auf Französisch – deutsche Untertitel auf der Wand – über seine Motivation und seine Gefühle während seines so selbstverständlich erscheinenden Spaziergang über dem Nichts, und diese ruhig gesprochenen Worte lösen angesichts der Situation geradezu transzendente Empfindungen aus. Nach diesem spektakulären Kletterschau folgt dann der obligatorische Gang über das Reale Seil, der dann nach dem optischen Schock nur noch Trainingscharakter aufweist.

Nathan Paulin und eine Tänzerin

Dann stürmt die neunköpfige Tanzgruppe – drei Frauen und sechs Männer – auf die Bühne und beginnt, auf tänzerische Weise die Kletterwand zu umspielen. Dazu bauen die Akteure dreigliedrige Menschensäulen, die wie selbstverständlich über die Bühne wandeln und laufen. Bald beginnen die Tänzerinnen auf der Spitze zu springen – ja: zu fliegen – und in den Armen ihrer Partner zu landen. Dieser freie Sturzflug ins Leere erfordert absolutes Vertrauen in die Partner, denn es gibt weder Sicherungsseile noch Auffangnetze. Dann wieder schleudern kleine Gruppen einzelne Mitglieder an die Kletterwand, wo sich diese sich wie selbstverständlich elegant und leicht aus dem Flug niederlassen – wie Seevögel an senkrechten Felswänden.

Teil dieser Tanztruppe ist auch die Extrem-Kletterin Nina Caprez. Ein zweiter Film zeigt sie beim Ersteigen einer der Felswände, die gerade Nathan Paulin mit seinem Seil verbunden hatte. Die Zuschauer erleben hautnah die Risiken dieser Art des Kletterns und dann sogar einen „live“ gefilmten Schockmoment, den wir hier nicht näher beschreiben wollen. Parallel dazu klettert Nina Caprez selbst über ihren eigenen Film, und streckenweise wird der Film geschickt derart gezoomt, dass die virtuelle und die reale Nina gleich groß sind. Nur die unterschiedliche Kleidung unterscheidet sie, doch der Betrachter kann sie nicht mehr eindeutig ihrem jeweiligen Präsenzraum zuordnen.

Anschließend treffen sich Nathan Paulin und die Tanztruppe mit ihren menschlichen Säulen und fliegenden Menschen gemeinsam unter und am Hochseil und zeigen eine Reihe von akrobatischen Kletter- und Drahtseilaktionen, die bei allem sportlichen Anspruch doch eine große Nähe zum Tanztheater aufweisen. All diese Übungen auf dem Seil und an der Wand wirken nie angestrengt oder gar verbissen, sondern stets leichtfüßig und streckenweise fast meditativ.

Für letztere Wirkung sorgt auch die Musik von Jean-Baptiste Julien, die anfangs nur aus einzelnen Tonfolgen auf gezupften Instrumenten besteht, später jedoch an Dramatik gewinnt und vor allem die Anspannung der Kletterpartie zum Ausdruck bringt. Dabei versteht sich diese Musik stets nur als akustische Untermalung und übernimmt nie eine dominierende Rolle. Im Mittelpunkt stehen die körperlichen Aktivitäten, die trotz aller Akrobatik nie die tänzerisch-leichte Aura verlieren. Im wahrsten Sinne des Wortes „corps extrêmes“.

Das Publikum war begeistert und spendete lang anhaltenden, mehr als kräftigen Beifall.

Frank Raudszus

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