Jonas Lüscher: „Verzauberte Vorbestimmung“

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Auf eine bestimmte Weise trifft der Titel dieses Buches dessen Kern auf den Punkt. Der – scheinbare? – Widerspruch zwischen einer – ambivalenten – Verzauberung und einer – zwangsläufigen – Vorbestimmung zieht sich auch durch das Buch, das weder einen durchgängigen Handlungsstrang noch eine eindeutige Erzählperspektive anbietet. Der Ich-Erzähler gibt sich erst spät als solcher zu erkennen, ohne sich jedoch als Individuum mit einem fest umrissenen Charakter zu präsentieren. Das „Ich“ muss als Verortung reichen, und ein biographischer Rückschluss im Sinne einer Autofiktion lässt sich nur mit großer Vorsicht ziehen. 

Über lange Strecken übernehmen andere Figuren die Funktion des Erzählens, wobei die Person des eigentlichen Ich-Erzählers erst nachträglich durchschimmert. Ganze Kapitel sind In der dritten Person der jeweils agierenden Figuren geschrieben, wobei die Erzählerfunktion in Dialogsituationen durchaus zwischen den Figuren wechseln kann.

So durchzieht der Verweis auf den Schriftsteller Peter Weiss große Teile des Buches, wobei sich der Ich-Erzähler immer wieder auf den Biographen „S.“ bezieht. Damit ist offensichtlich die reale Person Werner Schmidt mit seiner Weiss-Biographie gemeint. Es gibt also ganz handfeste Realitätsbezüge, die aber bewusst nicht realistisch, sondern eher fiktional gestaltet sind. 

Neben diesen aktuellen Zeitbezügen gibt es eine Reihe faktisch zutreffender, aber literarisch verfremdeter Bezüge auf Vergangenheit und Zukunft. Dazu gehören Zeitreisen in die Vergangenheit zu tatsächlichen Ereignissen und ein vermeintlich authentischer Blick in eine – dystopische – Zukunft. Diese Handlungsstränge sind dabei lediglich durch den Ich-Erzähler verbunden, der sich auf autofiktionale Weise immer wieder in den Gang der Handlung einbringt.

Die Handlung, wenn man sie denn so nennen will, beginnt 1915 mit den Erlebnissen eines jungen Algeriers, der sich von einem redegewandten Rekrutierungsoffizier für die französische Armee anwerben lässt und im flandrischen Schützengraben die Schrecken des Gaskrieges kennenlernt. Schwer verwundet wird er entlassen und ergreift den Beruf des Briefträgers, um knapp ein halbes Jahrhundert später in einem kleinen Dorf im Süden Frankreichs eine Kellnerin kennenzulernen, die ihm von einem deutschen Schriftsteller – Peter Weiss – und dessen Halt auf einer Frankreichreise in eben diesem Dorf erzählt. Die damalige Reise galt dem seltsamen Monument eines egomanen Briefträgers (!), der das Ungetüm aus selbst gesammelten Steinen errichtet hatte. Die metaphorische Deutung dieses Werkes überlässt der Autor dabei den Lesern.

Die selbe Reise unternimmt der Ich-Erzähler in den heutigen Tagen auf den Spuren von Peter Weiss und stellt damit zumindest eine implizite Verbindung zu der Kellnerin und dem algerischen  Briefträger her. Dabei gehen die Zeit- und Erzählebenen – 1960 und 2024 – fließend ineinander über, und der Leser weiß zeitweilig nicht, wer wann erzählt. Das ist bereits ein Verweis auf die fiebrigen Träume und Assoziationen, die weite Bereiche des Buches prägen. Diese stammen von einer lebensbedrohenden Corona-Erkrankung des Ich-Erzählers, die man als direkte Beschreibung eines biographischen Einschnitts des Autors verstehen kann. Während seines Komas und selbst danach missdeutete und verwechselte er optische und akustische Eindrücke sowie Erlebnisse und Gelesenes und durchwanderte eine ganz eigene Welt verschiedener Schrecken und Gefahren.

Eine dieser Assoziationen stammt dabei von einer Reise nach Tschechien, wieder auf den Spuren von Peter Weiss, die zu einer kleinen Stadt führt, in der Anfang des 19. Jahrhunderts die örtlichen Weber einen Aufstand gegen die aufkommenden Weberei-Fabriken inszenierten. In diesem Bericht schlägt sich die Skepsis des Autors gegen die Hybris der technischen Entwicklung nieder, und er nimmt – im Sinne seiner fiebrigen Träume – an diesem historischen Ereignis selbst als Person teil. In den alle gewachsenen sozialen Verhältnisse zerstörenden Maschinen schimmert wieder die Anmaßung des Briefträger-Monuments von Südfrankreich durch.

Obwohl der Ich-Erzähler auch hier wieder Peter Weiss folgt, spielt dessen literarische oder gar politische Rolle zu seinen Lebzeiten keine Rolle. Peter Weiss tritt hier stets nur als der Träger seines Namens und – beiläufig – als Maler und Schriftsteller auf. Doch die Spurensuche mehr als ein halbes Jahrhundert später verweist auf den Vorbildcharakter dieses multimedialen Künstlers für den Autor.

Nach dieser dramatischen Geschichte um hungernde Weber geht es mit einem abrupten literarischen Bruch in ein zukünftiges, dystopisches Ägypten, das der Autor hier offensichtlich als paradigmatische Wiege westlicher Kultur gewählt hat. Die Regierung hat die lange geplante neue Metropole in der Kairoer Gegend aufgegeben und sich selbst überlassen, um mit chinesischem Geld eine futuristische neue Zentrale zu errichten, in der alle Bewohner voll digitalisiert und damit lückenlos überwachbar sind. Die Bewohner der alten Metropole darben unter sich stetig verschlechternden Bedingungen in den ehemaligen Prachtgebäuden, verfolgen deren langsamen Verfall und lassen sich von sarkastisch bis zynisch gefärbten Comic-Shows unterhalten. Eine stabile Gegenwart geschweige denn hoffnungsfrohe Zukunft gibt es für sie nicht mehr. Eine junge Frau steht für diese abgehängte Bevölkerung, und der Ich-Erzähler, selbst in der Jetztzeit auf einer Reise durch Ägypten, projiziert ein kleines Mädchen auf der Straße In die junge Frau zwanzig Jahre später.  

Auch hier wieder schlägt die Befürchtung einer unkontrollierten, lebensbedrohenden Technik-Herrschaft durch, wobei die Ironie darin besteht, dass die willigen Bewohner der neuen Metropole unsterblich sind. Dass sie gerade dadurch den Kern ihres Daseins aufgeben, merken sie erst spät und suchen dann verzweifelt Kontakte zu den realen – weil sterblich leidenden -Menschen.

Der Autor schildert diese dystopische Landschaft mit einer hoffnungslosen Sachlichkeit, die für Enttäuschungen und Desillusionierung In der neuen Welt steht. Leere Städte, durch deren abbröckelnde Straßen ein alles einebnender Wind weht, sowie ein immer gleicher, nicht mehr auf Aktivität und Zukunftsglauben setzender Alltag bilden nuanciert den Rahmen eines vegetativen Daseins, das irgendwann mit dem Tod endet. Dennoch bietet das Buch am Ende einen kleinen Hoffnungsschimmer, wenn eine angepasste und „angeschlossene“ Bewohnerin der neuen Welt zu einer befreienden Tat schreitet.

Sprachlich setzt Jonas Lüscher durchaus Maßstäbe, wenn auch nicht durch eine neue, experimentelle Sprache, sondern indem er die Möglichkeiten der deutschen Sprache ausreizt. Durchgängig fällt die sprachliche Fülle mit Nutzung aller grammatikalischen Möglichkeiten auf. Der teilweise episch anmutende Stil widerspricht auch nicht der lakonischen Kürze, denn der Autor wählt für jeden Ereigniszusammenhang den passenden Stil. Die Frankreichreise spiegelt mit seinen Dialogen ein wenig die trockene Ausdrucksweise der sechziger Jahre wider, während im Tschechien des frühen 19. Jahrhundert das etwas gewundene Pathos dieser Zeit überwiegt. Im endzeitlichen Ägypten der nahen Zukunft schlägt sich dagegen das wortlose Schweigen der isolierten Individuen in einer bewusst kargen Sprache nieder.

Mit diesem Roman bereichert Jonas Lüscher die literarische Landschaft mit ihrer Befindlichkeits- und Abrechnungsprosa und sorgt für einen Frischeschub.

Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, umfasst 352 Seiten und kostet 26 Euro.

Frank Raudszus  

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