„Le Sacre“ reloaded

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„Corps de Walk“, die neue Produktion des Hessischen Staatsballetts, ist in erster Linie ein implizites Zeichen gegen den leider auch in vielen künstlerischen Institutionen spürbaren, als Antizionismus getarnten Antisemitismus, denn sowohl die Choreographen Sharon Eyal und Gai Behar als auch der Musiker und DJ Ori Lichtik sind Israelis. So manches andere Haus hätte diese Truppe – aus Überzeugung oder Opportunismus – gar nicht erst in Erwägung gezogen.

Die Choreographie selbst ist bereits fünfzehn Jahre alt und hat bereits einen erfolgreichen Zug durch die weltweite Tanzgemeinde hinter sich. Man kann diese „Wiederaufnahme“ daher ebenfalls im obengenannten Sinne interpretieren.

Ensemble

Im Mittelpunkt steht – gemäß Titel – der Gang des menschlichen Körpers und die Bedeutung dieser Bewegungsart für die soziale Gemeinschaft. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Menschen ist – wie bei den Tieren – der Gang, und speziell beim „Sapiens“ die ihn auszeichnende aufrechte Version.

Das zwölfköpfige Ensemble trägt hautfarbene, enge Bodies, die auf den ersten Blick Nacktheit suggerieren, dazu zurückgegelte, leicht angegraute Haare. Diese Einförmigkeit ist Programm, weil dadurch die Bedeutung der sozialen Gemeinschaft betont wird. Auftreten und Bewegungen der Truppe zeigen jedoch vom ersten Augenblick an, dass es hier nicht um Erotik oder gar Sexualität geht, sondern eher um Schutzlosigkeit und existentielle Gleichheit.

Die Choreographie beginnt fast lyrisch mit Vogelgezwitscher und einer rituell anmutenden Szene, bei der das gesamte Ensemble in der Bühnenmitte in enger Gemeinschaft die Arme gen Bühnenhimmel richtet. Schon hier stellte sich beim Rezensenten spontan die Assoziation an Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ ein, und der weitere Fortgang der Choreographie bestätigte diese Reminiszenz noch. Die Nacktheit verstärkt den mythischen Aspekt, ebenso die ostinate Musik von Ori Lichtik, die sich aus den endlosen Wiederholungen der „minimal music“ und der Techno-Musik speist. Auch die distanzierten musikalischen Figuren Debussys spielen mit hinein. Die wohldosierte Lautstärke und Dynamik dieser Musikmixtur erzeugt eine endlos vorwärtsdrängende Dynamik, die den menschlichen Pulk auf der Bühne geradezu zum Gehen und Laufen zwingt.

Dreigang

Dabei stellt sich eine weitere Assoziation ein, nämlich die der menschlichen Evolution. Der nackte(!) Frühmensch musste sich gegen die gnadenlose Kontingenz der Natur durch Bewegung zur Wehr setzen, um nicht unterzugehen. So entwickelten sich die unterschiedlichsten Bewegungsarten wie Laufen, Zusammenkrümmen, Abwehr, Springen, Ausweichen, Umarmen und Flüchten. All das und einiges mehr präsentiert diese Truppe in immer neuen Kombinationen, wobei sich auch immer wieder – in größter Not? – rituelle Gebetshaltungen und flehende Gesten ergeben. Die Gefahren der natürlichen Umgebung, hier dargestellt durch die unerbittlich fortschreitende Musik, zwingen dabei zur permanenten Ruhelosigkeit und ewigem Weitergehen, mal vorwärts, mal rückwärts, mal im Kreis. Stillstand ist Tod.

Dabei verleiht nur die Gruppe Schutz, mal eine größere, mal eine kleinere. Denn jedes Gruppenmitglied ist auch Individuum und verspürt den Drang zum autonomen Handeln. So sondern sich einzelne Mitglieder der Tanztruppe von Zeit zu Zeit von der Gemeinschaft ab, nur um entweder freiwillig zurückzukehren oder einfach aufgesogen zu werden. Dieser Vorgang wiederholt sich in wechselnden Ausprägungen und definiert dadurch den Charakter der Gemeinschaft; fast könnte man sagen, die Sehnsucht des Einzelnen nach Selbstbestimmung ist das grundlegende Wesen der sozialen Gemeinschaft.

Ensemble

Die Assoziation an Strawinskys „Le Sacre“ bleibt über die gesamte, einstündige Dauer dieser Produktion bestehen, auch wenn hier keine explizite Geschichte über das (einzelne) Opfer und die opfernde Gemeinde erzählt wird. Dieser alte Ritus scheint jedoch in den zyklischen Trennungen und Wiedervereinigungen implizit auf, und der wuchtige, schicksalhafte Vorwärtsdrang der Musik verstärkt diese Assoziation noch. Ob die Choreographen sich dieser Assoziation bewusst waren oder sie sogar angestrebt haben, sei dahingestellt, doch dürfte sie von einer zeitgenössische Tanztruppe nicht als Manko empfunden werden.

Eine ganze Stunde Tanz ohne explizite Geschichte scheint für Außenstehende recht mühsam und längengefährdet zu sein. Doch die Dichte und Energie dieser vielfältigen Bewegungsstudie lässt die Zeit im Nu verfliegen und auch nicht den Hauch von Längen aufkommen. Obwohl nichts „passiert“, hält sich die Spannung bis zum Schluss auf hohem Niveau. Dieser Schluss besteht dann in einer Art Rückkehr „to the roots“, wenn die gesamte Truppe sich mit gesenkten Köpfen in der Bühnenmitte zusammenfindet und bei langsam verlöschendem Licht zur Ruhe findet.

Das Premierenpublikum im ausverkauften Großen Haus des Staatstheaters war begeistert und zeigte dies mit lang anhaltendem Beifall in Form von „stehenden Ovationen“ – um nicht in Anglizismen zu verfallen.

Frank Raudszus

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