Provokation pur

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Joe Orton (1933-1967) kam aus der Arbeiterschicht, war homosexuell und eignete sich die Schriftstellerei autodidaktisch an. In seinem kurzen Leben provozierte er die konservative englische Gesellschaft mit sexuell deftigen und provokanten Stücken, von denen das Staatstheater Darmstadt in der letzten Saison „Was der Butler sah“ aufführte. Nun folgt sein erstes Stück, „Seid nett zu Mr. Sloane“, das damals bereits ein provokanter Paukenschlag gewesen sein muss.

v.l.n.r.: Niklas Herzberg, Laura Eichten, Nico Ehrenteit

Der junge Mr. Sloane mietet bei der alleinstehenden Vierzigerin Kath ein Zimmer, die in ihm sofort einen möglichen Liebhaber sieht. Doch ihr alter Vater Kemp und ihr schwuler Bruder Ed sind dagegen, letzterer aus Eifersucht. Kath verführt Sloane, doch Ed hintertreibt das und versucht, ihr den arbeitsunwilligen Schmarotzer abspenstig zu machen. Als Kemp in Sloane den Mörder seines Chefs wiederzuerkennen glaubt, bringt der ihn um, und Kath und Ed können ihn künftig mit diesem Wissen zu entsprechenden sexuellen Diensten erpressen.

Soweit die Handlung, doch was macht Regisseur Marlon Tarnow daraus? Die Lüsternheit vierzigjähriger Frauen sowie die Homosexualität sind keine Theateraufreger mehr, und die vom Programmheft angedeutete Altersdiskriminierung lässt sich nur schwer in dieses Stück hineininterpretieren. So dreht Tarnow die Stoßrichtung einfach um und zeigt einer alternden Gesellschaft auf extrem überspitzte Weise die Schrecken ihrer Zukunft.

Niklas Herzberg und Nico Ehrenteit

Dazu haben Dimitrij Muraschov (Bühne & Kostüm) und Hanna Rohde (Maskenbild) ein wahres Horrorbild geschaffen, das offensichtlich auch vom Datum der Premiere – It´s Halloween, stupid! – beeinflusst wurde. Sowohl das Geschwisterpaar mittleren Alters als auch der Vater tragen Masken, die sie in die Altersklasse der Hundertjährigen verschieben: hängende, faltige Haut mit tausend Runzeln, dazu tränende, blutunterlaufene Augen, und Vater Kemp mit bauchlangem Bart. Sloane dagegen kommt als Teenager mit kurzen Hosen, (aal)glatter Maske und langen Haaren daher. Das ganze spielt in zwei bewusst karg anmutenden, Trostlosigkeit verströmenden Zimmern mit groben Holzwänden.

Gleich die erste Szene stellt die Signale auf ästhetische Provokation, wenn Kemp (Niklas Herzberg) den Toilettengang eines pflegebedürftigen Greises mit allen abstoßenden Einzelheiten zelebriert. Einzelheiten seien verschwiegen. Die pflegerischen Dienste der Tochter Kath (Laura Eichten) folgen dann zwar „live´“, aber als Video auf den Fensterscheiben des sogenannten Wohnraums. Die Verführung des Mr. Sloane (Nico Ehrenteit) durch Kath erfolgt noch vor Schlüsselübergabe in aller Deutlichkeit, und von da an trägt Sloane nur noch ein hinten offenes Suspensorium.

Laura Eichten und Nico Ehrenteit

Kaths sexuelle Attacken steigern sich und wecken Eds und Kemps jeweils anders gelagerte Eifersucht bis hin zur Katastrophe. Die Ermordung des alten Vaters ist ein Höhepunkt der bewusst gewählten Grausamkeit, wie man sie sich selbst in den gruseligsten Halloween-Geschichten kaum vorstellen kann. Der Mörder mit der Kettensäge und die herumfliegenden, blutgetränkten Leichenteile lassen bei der Premiere die Gäste scharenweise den Saal verlassen und damit unbewusst die Absichten und Einschätzungen der Regie bestätigen. Denn ganz offensichtlich geht es in dieser Inszenierung gar nicht um den (psycho-)logischen Ablauf der Handlung, sondern einzig und allein um die Provokation einer alternden Gesellschaft, die in diese Bühnenhandlung wie in einen gähnenden Abgrund hineinschaut.

Wenn man die sexuelle Ausbeutung Sloanes durch die gealterten Vermieter als Metapher für die heutige ökonomische Plünderung der jungen Generation durch die von einer kurzfristig denkenden Politik unterstützten (Früh-)Rentner nimmt, dann mutet auch der scheinbar so reale Mord an Vater Kemp nur wie eine Ankündigung der bevorstehenden virtuellen Rache der jungen Generation an. Ob diese dann – wie Sloane – nur schmarotzt oder hart arbeitet, spielt dabei keine Rolle. Und das dürfte auch der Hintergedanke bei dieser Inszenierung gewesen sein. In dieser Hinsicht war es sogar ein Täuschungsmanöver, durch die Wahl des Premierentermins „nur“ einen etwas zu deftigen Halloween-Scherz zu suggerieren.

Das verbliebene Publikum spendete dem Ensemble freundlichen Beifall und bezog dabei trotz der Unappetitlichkeiten auch das Regieteam ein.

Frank Raudszus

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