Ian Bostridge: „Schuberts Winterreise“

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Ein ungewöhnliches Musikbuch über einen ebenso ungewöhnlichen Liederzyklus.

Franz Schuberts Liederzyklus „Die Winterreise“ hat  allein in den letzten zwei Dekaden fast ein  Dutzend musikwissenschaftlicher Kommentare und Deutungen ausgelöst, von älteren Exegesen des 19. und 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen. Die Trostlosigkeit und Verzweiflung dieses Werkes, das kurz vor Schuberts Tod nach Gedichten von Wilhelm Müller entstand, brannten sich nicht nur durch die Texte, sondern vor allem durch die einzigartige musikalische Umsetzung in die Herzen und Hirne der Zuhörer ein und werden immer einen deutlichen Rest von Rätselhaftigkeit hinterlassen. Viele sehen hinter den Texten eine verschlüsselte Abrechnung mit der eisigen politischen und gesellschaftlichen Erstarrung der Metternichschen Restauration nach 1815, und die endzeitliche Vertonung durch Franz Schubert führen viele Kommentatoren unter anderem auf seine tödliche Syphilis-Erkrankung zurück.

1512_winterreiseDiesem Literaturkanon hat jetzt der Brite Ian Bostridge ein eigenes Buch hinzugefügt. Er studierte ursprünglich Geschichte und Philosophie und kam erst als Quereinsteiger zur Musik. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Liedsänger. Bostridge verweist gleich zu Beginn darauf, dass er über keine vertieften musikwissenschaftlichen Kenntnisse verfüge – wahrscheinlich ein typisch britisches „understatement“ – und sich daher der „Winterreise“ eher als intuitiver Interpret nähern könne. Dann lässt er seinen Gedanken und Assoziationen zu den einzelnen Liedern, zu Franz Schubert und zu dem historischen Hintergrund freien Lauf. Natürlich äußert er sich auch über musikalische Aspekte und Eigenarten der „Winterreise“, und dies durchaus nicht amateurhaft oder gar dilettantisch; man merkt seinen Ausführungen jedoch an, dass er sich nicht an eine enge rationale Betrachtungsweise binden will, sondern sich die Freiheit des Gedankens vorbehalten möchte.

Das Buch ist nach der Reihenfolge der 24 Liedern strukturiert, die heute üblich ist. Dabei verweist Bostridge auf die Tatsache, dass Schubert die Reihenfolge von Müllers Zyklus zwar im Großen und Ganzen eingehalten, sie aber aus nachvollziehbaren Gründen an einzelnen Stellen umgestellt hat. Jedes Lied beginnt mit den einleitenden Takten des jeweiligen Themas und dem vollständigen Text. Anschließend geht Bostridge dem textlichen und musikalischen Material auf verschiedenen Wegen nach: mal findet er biographische Parallelen oder Auslöser, mal politische, mal gesundheitliche, und bisweilen sogar naturwissenschaftliche.

Gleich bei „Gute Nacht“ verweist Bostridge auf politische Heimatlosigkeit , Sinn- und Weltverlust bis hin zu den Mythen der (Erd-)Geschichte; die „Gefrornen Tränen“ enthalten für ihn Anklänge an Napoleons Russlandfeldzug und sogar an Stalingrad. Dabei zitiert er Slavoj Zizek, der dem deutschen Wesen eine enge Verbindung von Kälte und Tränen zuschreibe. Ähnliches gilt für die „Erstarrung“, die sich sowohl politisch als auch sexuell deuten lasse. Beim „Lindenbaum“ greift Bostridge weit aus bis in die deutsche Frühgeschichte und zu Thomas Manns „Zauberberg“, in dem Hans Castorp auf dem Schlachtfeld ausgerechnet den „Lindenbaum“ singt. „Auf dem Flusse“ unternimmt Bostridge gar einen Ausflug in die Klimageschichte, und der „Rückblick“ erinnert ihn an Orpheus und Eurydike. Das „Irrlicht“ motiviert ihn zu musikalischen Betrachtungen über Rhythmus und Harmonien, „Die Rast“ dagegen zu der ökonomischen Bedeutung der Köhlerhütte und zu Betrachtungen über die Industrialisierung und die eisige Ruhe der Restauration.

Eisblumen und ihre mythische Bedeutung finden wir in „Frühlingstraum“, und in der „Einsamkeit“ sehen wir Caspar David Friedrichs Bilder des einsamen Wanderers hoch über den Wolken. Einen musikalischen Ausflug zur Bedeutung des Horns unternimmt Bostridge bei „Die Post“, während er in „Der greise Kopf“ über die medizinischen und biologischen Ursachen für ein plötzliches Ergrauen sinniert. Die „Krähe“ ist für den Autor schon von Alters her der Todesbote, und „Letzte Hoffnung“ weckt in ihm Gedanken über die Statistik des fallenden Blattes, sowie über Zufall und Determinismus.

„Im Dorfe“ spiegelt sich für Bostridge die Enge der Restauration wider, und „Der stürmische Morgen“ setzt dagegen einen verzweifelten Protest. Die Amerika-Begeisterung des frühen 19. Jahrhunderts, speziell der Topos des „Wilden Westen“, schlägt sich für Bostridge im „Wegweiser“ nieder, während „Das Wirtshaus“ eine schaurige letzte Gaststätte vor dem Jenseits darstellt. In „Mut“ dagegen sieht Bostridge das von einem latenten, trotzigen Atheismus geprägte Welt- und Glaubensverständnis Schuberts, das in gewisser Weise auf Nietzsche zusteure.

Während Bostridge in „Die Nebensonne“ noch einmal weit zur Naturwissenschaft – Astronomie – abschweift und dem optischen Phänomen der „Nebensonnen“ eine romantische Deutung zuweist, sieht er im „Leiermann“ den abschließenden Höhepunkt, der gerade durch seine bewusst gesetzte musikalische „Armut“ eine Antipodenstellung einnehme, als könne man nach diesem Lied keine Musik mehr machen, sondern nur noch schweigen.

Das sind nur Schnappschüsse aus den Betrachtungen des britischen Sängers. In den einzelnen Kommentaren geht er weit tiefer ins Detail und differenziert seine Assoziationen wesentlich feiner, als wir es hier wiedergeben können. Musikliebhaber – vor allem Kenner und Liebhaber der „Winterreise“ – sollten sich dieses Buch unbedingt zu Gemüte führen. Nicht nur, um eventuell neue Deutungen zu erfahren, sondern vor allem, um das Musik- und Werkverständnis eines bedeutenden Interpreten kennenzulernen.

Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 404 Seiten und kostet 29,95 Euro.

Frank Raudszus

 

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