Spannungstanz zwischen Kunst und Wirklichkeit

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Das Hessische Staatsballett stellt im Staatstheater Darmstadt seine neue Produktion „Grenzgänger“ vor.

Seit der Mensch über seine Existenz reflektiert, gibt es nicht nur die Kunst, sondern damit auch das Spannungsfeld zwischen Kunst und Wirklichkeit. Mal ist erstere eine Flucht vor letzterer, mal eine Auseinandersetzung mit ihr, dann aber auch wieder eine utopische Sehnsuchtswelt. Erst in der Kunst wird sich der Mensch der Bedeutung und des Wesens der Wirklichkeit bewusst. Ja, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Konfrontation des Menschen mit einer gleichgültigen bis unfreundlichen Wirklichkeit die Kunst erst geschaffen hat.

Die Produktion der beiden Choreographen Marcos Morau und Damien Jalet konfrontiert diese beiden Bereiche in zwei Choreographien miteinander, die den Kontext aus ihrer jeweiligen Perspektive beleuchten. Marcos Morau stellt den ästhetischen Aspekt der Kunst in den Mittelpunkt seiner Choreographie „Ariadna“. Zu Beginn tanzt ein junger Mann im Bühnenvordergrund mit seinem Spiegelbild – wie man meint. Erst als sich das perfekte Spiegelbild plötzlich verselbständigt, erweist sich der vermeintliche Spiegel als ein Gazevorhang. Schon hier zeigt sich der starke Symbolcharakter dieser Choreographie, erkennt man doch schnell die Metapher der sich selbst genügenden – und bespiegelnden – Kunst, die dann plötzlich auf die Realität trifft.

Die "Ariadne"-Statue

Die „Ariadne“-Statue

Dann hebt sich der Gazevorhang, und dahinter wird eine überlebensgroße liegende Ariadne sichtbar, deren weißer (Theater-)Marmor eine geradezu blendende Wirkung ausübt – die Metapher der blendenden Kunst. Um diese Statue tanzen zu Kunstfiguren stilisierte Personen in maßvollen, sich selbst ästhetisierenden Figuren. Während ätherische Klänge durch die Luft schweben, ertönen plötzlich durch eine schwere eiserne Tür an der Bühnenwand hässliche Töne, die Gewalt und Unfrieden verheißen. Obwohl die Gemeinschaft der Künstler deutlich ihre Irritation zeigt, überwiegt die Neugier, und bald schon rütteln einzelne Personen an der Tür und fordern laut schreiend in mehreren Sprachen die Öffnung. Als sich die Tür einmal öffnet, erweckt die Sicht nach außen offensichtlich Schrecken und Erstarrung. Und doch wirkt diese einmalige Öffnung wie der Anblick des paradiesischen Baumes der Erkenntnis. Die Neugier nach dem „Draußen“ und das Gefühl der Isolation treibt die Künstler zu immer stärkeren Ausbrüchen und Trommelattacken auf die Tür. Dabei stellt sich auch eine unfreiwillige Komik ein, wenn die Gruppe versucht, mit einer Art Rammbock die Tür zu öffnen, die sich gemäß der Öffnungserfahrung nach innen öffnet….

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Pablo Girolami, Shelby Williams, Tyler Schnese, Lara Misó Peinado

Hier ist auch eine Kritik an dieser Choreographie anzusetzen. Der metaphorische und symbolische Charakter tritt derart in den Vordergrund, dass man meint, der Choreograph befürchte, die Zuschauer verstünden seine Geschichte um die liegende Ariadne nicht. Der zweite Kritikpunkt gilt den tanzfremden Mitteln zur Verdeutlichung dieser Symbolik. Die trommelnden Fäuste an der Tür und die Schreie nach Öffnung gehören ins Fach des Sprechtheaters, das Tanztheater könnte hier kreativere, genuine Mittel einsetzen, wenn es denn dem Verständnispotential des Publikums trauen würde. Hier wird für ein Tanztheater eindeutig zu viel geschrieen und – ja: platt agiert. Diese „Plattheit“ findet dann ihren Höhepunkt in einem Pistolenschuss auf die Ariadne-Statue, die daraufhin aus dem Herzen blutet (sic!). Hier hat Marcos Morau auch dem letzten tanzunerfahrenen Zuschauer mit einer nicht mehr misszuverstehenden Geste verdeutlicht, was er mit seiner Choreographie ausdrücken will: der im Bereich der Kunst agierende Mensch kann die – ursprünglich ersehnte – Abkopplung von der Realität nicht ertragen und ermordet die Kunst. Der Rest ist – nicht Schweigen, sondern hilfloses Verwischen des Kunstbluts.

Marcos Moraus Choreographie hat noch mit einer anderen Schwäche zu kämpfen. Um die Isolation des Künstlers in seiner Scheinwelt zu zeigen, beschränkt er die Tanzfiguren auf statische Elemente, die nur selten durch laokoonhafte Figuren aufgelockert werden. Alle Tanzfiguren sind „nur“ Kunst und verstehen sich als solche, distanzieren sich bewusst von einer wie immer gearteten Realität und verlieren dadurch an Lebendigkeit. Wenn Morau dies hat ausdrücken wollen, ist es ihm gelungen, allerdings auf Kosten jeglicher Dynamik. Die Choreographie zeichnet keine Entwicklung einer Geschichte oder ihrer Figuren nach, sondern beschreibt die Statik einer ewig gleichbleibenden – ästhetischen – Welt.

Guido Badalamenti, Tatsuki Takada, Jean-Baptiste Plumeau, Stellina Nadine Jonot

Guido Badalamenti, Tatsuki Takada, Jean-Baptiste Plumeau, Stellina Nadine Jonot

Dagegen zeigt Damien Jalets Choreographie „Tr(o)ugh“ von Beginn an Dynamik und eine deutlich strukturierte Entwicklung und ist damit ein Abbild der Realität, aus deren Perspektive er auf den Menschen blickt. In der Mitte der Drehbühne liegt ein etwa mannshoher Zylinder, der sich mit der Bühne langsam zu drehen beginnt und mal die Seiten zeigt, mal den Durchblick wie im James-Bond-Vorspann gestattet. Im ersten Bild tobt um diese Röhre ein gnadenloser Kampf jeder gegen jeden. Die Besiegten brechen auf der Drehbühne neben der Röhre zusammen, wo sich langsam die Leiber stapeln, bis nur noch vereinzelte Kämpfer die vordere Bühne beleben.

Wenn die Kämpfe zum Erliegen gekommen sind, beginnt die Röhre auf der Bühne von hinten nach vorne und zurück zu rollen. Dabei kommen beim Vorwärtsrollen die Körper einzelner Tänzer zum Vorschein, die offensichtlich an der Röhre wie an einer Walze kleben und überrollt zu werden drohen. Kurz vor dem Überrollen der Leiber bleibt die Röhre stehen und rollt zurück. Hier drängt sich die Metapher des Schicksals auf, die den wehrlosen Menschen in einem ewigen Zyklus überrollt. Doch das geschieht ausschließlich mit den Mitteln der Bewegung und der Körpersprache. Hier werden keine Schreie und keine Ausbrüche des Sprechtheaters benötigt, um den metaphorischen Charakter der Bewegungsfiguren zu verdeutlichen. Die hilflos sich aufbäumenden und vom Überrollen bedrohten nackten Körper sprechen für sich.

Stellina Nadine Jonot

Stellina Nadine Jonot

Die Choreographie gipfelt dann wider Erwarten in einer Apotheose des Menschen, wobei Leonardos Bild vom „Vitruvianischen Menschen“ zu tänzerischen Ehren kommt. Die nackten Leiber des gerade geendeten „Jüngsten Gerichts“ sammeln sich alle in der Röhre, von einem geheimnisvollen Wesen im silbernen Umhang zum Leben erweckt. Dann stehen sie hintereinander mit ausgebreiteten Armen und Beinen in der Röhre und lassen die Arme kreisen, so dass die Röhre anmutet wie eine laufende Turbine. Trotz aller Leiden und Kämpfe obsiegt der Mensch am Schluss, oder zumindest die Idee von ihm, denn so ist Leonardos Proportionsstudie wohl auch gemeint: als ein Abbild des sowohl genialsten als auch gefährlichsten Wesens der Welt.

Die Musik zu dieser Choreographie legt einen Klangteppich unter die tänzerischen Aktivitäten, mal expressiver – bei den Kämpfen, mal dunkler und verhaltener – bei den letzten Einstellungen. Doch nie dominiert die Musik den Tanz, so dass der Fokus des Publikums ungeteilt auf den Tänzern und ihren Bewegungen verharrt. Angesichts der Intensität und der starken Bildsprache dieser Choreographie hätte auch eine aggressivere Musik diesem Eindruck nicht geschadet, vermisst hat man sie jedoch nicht.

Das Publikum zeigte sich begeistert und applaudierte mit stehenden Ovationen. Und dieser Beifall kam nicht nur von einem „Insider“-Publikum aus Tänzern, Freunden und Bekannten des Ensembles, sondern aus dem vollen Herzen des breiten Publikums. Mit dieser Produktion ist dem hessischen Staatsballett zum Schluss der Saison noch einmal ein wahrer Coup gelungen.

Frank Raudszus

 

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