Skulpturen, der Natur abgeschaut

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Als Tony Cragg – Jahrgang 1949 – im Alter von sieben Jahren einen versteinerten Seeigel fand, dachte er, Erwachsene hätten dieses schöne Stück verloren, und schaute sich erst einmal um, ob ihn jemand beobachtete. Von diesem Augenblick an war er der Suche nach Fossilien verfallen und baute im Laufe seines Lebens eine beeindruckende Sammlung solcher Fundstücke auf. Auch während seines Kunststudiums ließ ihn diese Faszination nicht los, und er hielt sich nach eigenen Aussagen mehr in Museen als in Kunstvorlesungen auf.

Blick in den Ausstellungssaal mit einigen Skulpturen

Blick in den Ausstellungssaal mit einigen Skulpturen

Beeindruckt war Tony Cragg auch von Darwins Lehre der natürlichen Selektion – „natural selection“. Und so traf seine künstlerische Arbeit zwangsläufig auf seine Liebe zu den Fossilien. Die Natur hat in seinen Augen eine Schönheit und Intensität entwickelt, der die menschlichen Künstler nur nahe kommen können, sie aber kaum erreichen können. Tony Cragg hat im Laufe der Jahrzehnte die Wege und Ergebnisse der Evolution in zunehmendem Maße in seine künstlerischen Arbeiten einfließen lassen, und eine Auswahl dieser Werke ist jetzt im Skulpturensaal des Hessischen Landesmuseums zu sehen.

Dieser Saal ist vor über hundert Jahren speziell als Statuen- und Skulpturensaal gebaut worden, und zur Einweihung vor 110 Jahren füllten ihn Gipskopien antiker Statuen. Später wurde der Saal zur Gemäldegalerie umgewidmet, erhielt eine eingezogene Decke und einen – hässlichen, wie Direktor Theo Jülich bemerkte – grauen Teppichboden. Im Zuge der Restaurierung des Museums erhielt dieser Saal seine ursprüngliche Gestalt zurück: die hohe, repräsentative Kuppelstruktur, den Mosaikboden und die Licht spendenden großen Fenster. Da lag es nahe, zur Wiedereröffnung in diesem Saal eine eigene Skulpturen-Ausstellung anzusiedeln.

Eine andere Perspektive

Eine andere Perspektive

Der Titel „Unnatural Selection“ spielt nicht nur mit dem Begriff der „Natural Selection“, der natürlichen Auslese, sondern bringt darüber hinaus zum Ausdruck, dass Ausstellungen stets eine bewusste, „unnatürliche“ Auswahl beinhalten, denn man kann nur das ausstellen, worüber man verfügt. Das gilt generell für Museen, aber auch für Sammlungen aus der Erdgeschichte, die sich auf die Funde beschränken müssen, die vorliegen. Es gibt keine vollständige Sammlung prähistorischer Gattungen und Mineralien, sondern nur eine zufällige oder gezielte Auswahl.

Insofern passen Tony Craggs Werke ideal zum Auftrag und zum Wesen eines Museums, versuchen sie doch, den Funden aus der Frühzeit ein künstlerisches Denkmal zu setzen. Dabei geht es Tony Cragg nicht darum, bestimmte Fossilien als Kunstwerk zu kopieren, sondern er nimmt in seinen Skulpturen den Formenreichtum und die Schönheit der Effizienz, wie sie die Evolution geschaffen hat, zum Vorbild. Aus verschiedenen Materialien baut er Skulpturen in Menschengröße (und darüber hinaus), die zwar nicht unmittelbar an ein bestimmtes Fossil erinnern, aber deren Eigenarten widerspiegeln. Sie beeindrucken durchweg durch ihre harmonischen, zeitlosen Formen und dienen keinem anderen Zweck als sich selbst zu zeigen. Im Gegensatz zu antiken Statuen sollen sie keine berühmten Menschen oder gar Götter darstellen, und gegenüber modernen Skulpturen verzichten sie auf jegliche vordergründige Gesellschaftskritik. Sie stehen nur für sich und die Vollkommenheit der Natur.

Zur Eröffnung der Ausstellung erschien Tony Cragg persönlich. Da er seit vierzig Jahren in Deutschland – in Wuppertal – lebt, stellte er seine Werke und die dahinter stehenden Intentionen bei der Pressebesichtigung in fließendem, fehlerfreien Deutsch vor. Nur ein schwacher Akzent wies ihn als Engländer aus. Nach eigenem Eingeständnis ist Tony Cragg ein Mensch, der für einfache Fragen komplizierte Antworten findet, und das bewies er an diesem Vormittag: er gewann jeder aus dem Publikum kommenden Frage soviele Facetten ab, dass er bis in die Abendstunden hätte reden können. Wenn jemand über solche spannenden Werke so ausführlich redet, lässt man es sich gerne gefallen.

Frank Raudszus

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