Spannungsfeld zwischen Witz und Verzweiflung

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Die neueste Produktion des Hessischen Staatsballett stammt aus den Federn zweier Choreographen aus unterschiedlichen europäischen Kulturzonen – von Alejandro Cerrudo aus Spanien und Jeroen Verbrugge aus Belgien. Ob das in Zeiten einer kosmopolitischen Kultur eine Rolle spielt, mag sich jeder Zuschauer selbst beantworten, zumal Alejandro Cerrudo lange als Tänzer am Stuttgarter Ballett gearbeitet hat und auch Jeroen Verbrugge viel internationale Erfahrung aufzuweisen hat.

Ihre Choreographien „Now and Then“ (Cerrudo) und „The Great Trust“ (Verbrugge) verbindet ein zentrales Element des Bühnenbildes: eine Mauer. Diese kann man auf vielfältige Art als Metapher betrachten, positiv in Gestalt der weggefallenen Mauern innerhalb Europas, negativ als Gefahr von neuen Mauern gegen Flucht und Migration.

Daniel Alwell, Ensemble

Cerrudo stellt diese Mauer in „Now and Then“ als kalte, glatte Wand dar, die Gefahr und Abschottung ausstrahlt. Doch bevor er diese Wand den Zuschauern präsentiert, zeigt er in einem kleinen Prolog den Protagonisten als „coolen“ Individualisten mit Gitarre und Hut in einer Badewanne. Während er spielerisch die Wanne umturnt und umtanzt, steht sein einsam-steifes „alter ego“  mit dem Rücken zum Publikum vor dem zweiten Vorhang. Diese Gestalt verweist vom ersten Augenblick tatsächlich wie ein Menetekel auf die Wirklichkeit hinter dem Vorhang des Individualismus.

Mit einem Beleuchtungs-„Break“ öffnet sich der Vorhang, und die kalte Mauer füllt den gesamten Bühnenrückraum. Eine Gruppe von Tänzern erscheint und führt einen Formationstanz auf. Dann erscheinen nacheinander zwei Liebespaare auf der Mauer, darunter der „Gitarrenmann“. Langsam schält sich das Thema dieser Choreographie heraus: das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gruppe. Wenn das Individuum in eine Gruppe gerät, schlägt die anfänglich spielerische Behandlung des Einzelnen schleichend in aggressive Akte um. Den Höhepunkt dieser Aggression markieren zwei Szenen an der Mauer. In der ersten werden einzelne Personen an den Füßen von der Mauer herabgelassen, wobei es offen bleibt, ob es sich hier um eine Flucht über die Mauer mit Unterstützung einer Gruppe handelt oder um die gewaltsame Abschiebung eines abgelehnter Individuen – Zuwanderer? – über eben diese Mauer. Die Choreographie bleibt in dieser Hinsicht weitgehend ambivalent. Alejandro Cerriudo geht es offensichtlich nicht um eine politische Anklage, die er in eine nachvollziehbare Geschichte verpackt, sondern um das Wecken von Assoziationen der Angst, der Abwehr und der Aggression. Die zweite Szene ist wesentlich deutlicher, wenn eine Reihe von an der Wand aufgestellter Tänzer Luftballons zerknallen lassen und wie Erschießungsopfer umfallen.

Martin Angiuli, Greta Dato, Ensemble

Die einzige narrative Szene besteht aus der Charlie Chaplins „Final Speech“ eines (gar nicht so) fiktiven Despoten an sein Volk mit den üblichen Versatzstücken von Kampf und Freiheit. Zu diesem ausgedehnten Demagogie-Text windet sich ein einzelner Tänzer auf der Bühne. Hier zeigt sich die Fragwürdigkeit längerer gesprochener Texte im Ballett: der Schwerpunkt verlagert sich vom Tanz auf die Sprache und entsprechend die Aufmerksamkeit des Publikums. Der Tanz scheint dann nur noch ein Verlegenheitsbeiwerk zu sein. Man hätte auf diese Szene entweder verzichten oder sie rein tänzerisch umsetzen sollen.

Die Choreographie endet in einem ausgedehnten Tanz zweier ineinander verzahnter Tänzer, das man als das verzweifelte Aneinanderklammern zweier Überlebender deuten kann. Die

Die Musik zu dieser Produktion stammt durchweg von zeitgenössischen Komponisten und zeichnet sich vor allem durch ihre introvertierte Intensität aus. Sie bleibt stets in einem getragenen, eher subversiv wirkendem dynamischen und harmonischen Bereich und entwickelt gerade daraus ihre geradezu ostinat-bedrohliche Wirkung.

Ensemble

Jeroen Verbrugges „The Great Trust“ setzt dagegen von Beginn an – zumindest vordergründig – andere Akzente: ein Mann im Anzug setzt sich mit dem Rücken zum Publikum auf einen Stuhl vor dem Vorhang udn wartet (sic!). Wenn sich der Vorhang öffnet sieht man vor der bereits bekannten Wand eine kopfstarke Truppe grell geschminkter Gestalten, die offensichtlich eine Zirkustruppe darstellen. Der Zirkusdirektor oder Conférencier präsentiert sich und seine Truppe dem einsamen Zuschauer. Besondere Brisanz erhält die Szene durch ein großes zersplittertes Loch mitten in der Mauer, das offensichtlich von einer Bombe stammt, die metaphorisch als intakter Artefakt über der Szenerie hängt. Die Botschaft lautet: hier üben die Menschen nach einer Katastrophe des „Trotzdem“ einer Zirkusaufführung. Ein wenig fühlt man sich an die ersten Konzert- und Theateraufführungen in den Trümmerstädten im Jahre 1945 erinnert.

Mit zunehmender Aufführungsdauer des Zirkusprogramms gehen die Dinge auf der Bühne schief. Nichts läuft so, wie man es gewohnt ist und wie ein Zuschauer es erwartet. Erbarmungslos werden die Tricks und Täuschungsmanöver der Zirkuskünstler an die Öffentlichkeit gezerrt und das Groteske dabei gezeigt. Das entbehrt nicht eines gewissen Witzes, doch zwischen den Rotzen dieses Witzes schimmert anfangs der Selbstzweifel durch, bis sich diese Ritzen zu einem Abgrund der Verzweiflung öffnet, in den die ganze Zirkusgesellschaft zum Schluss stürzt. Hier schlägt das Metaphorische des Loches in der Wand zur realen Katastrophe um. Auch wenn Verbrugge auf jegliche vordergründige (gesellschafts)politische Aussage oder gar Agitation verzichtet, stellt sich die Assoziation an die Vergeblichkeit von „panis et circenses“ angesichts der drohenden oder gar bereits eingetretenen Katastrophe

Jiyoung Lee, Taulant Shehu

Die Musik dazu basiert auf Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge d-Moll und wurde von Stefan Levin eigens für diese Choreographie komponiert.  Mit dem zunehmendem Chaos der Zirkushandlung wird auch die Musik rhythmischer und drängender und läuft geradezu zwanghaft einem finalen Crescendo entgegen. Sowohl musikalisch als auch choreographisch erinnert diese Choreographie an Strawinskys „Sacre du Printemps“; wie dieses endet es ebenfalls in einer nicht aufzuhaltenden Katastrophe, die aber auch hier kathartische Wirkung hat. Die Katharsis bei Verbrugges „The Great Trust“ liegt dabei eher in dem Galgenhumor der Verzweiflung als in einem metaphysischem Opferkult. Und der Tanz der Ballerina mit dem überdimensionalen Teddybär wirkt wie ein groteskes Zitat von „La Belle et la Bête“.

Beide Choreographien zeichnen sich durch tänzerische Flüssigkeit und harmonische Bewegungsabläufe aus, ohne dass sie sich deswegen mit dem bloßen Aufwärmen des klassischen Balletts begnügen würden. Sowohl die Gruppenformationen als auch die Solo- oder Zweierpassagen verbinden Elemente des modernen TanzTheaters und des (neo)klassischen Balletts auf zwanglose Art zu einem harmonischen Ganzen. Die Gesellschaftskritik kommt eher „subkutan“ aus dem Kontext und nicht als Aufkündigung sämtlicher tänzerischer Traditionen zum Ausdruck. Die Zuschauer können die tänzerischen Leistungen ohne schlechtes Gewissen genießen, und das Premierenpublikum tat das an diesem Abend auch. Der kräftige, mit vielen „Bravos“ garnierte Beifall bewies das.

Frank Raudszus

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