Mick Herron: „Slow Horses“

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Der britische Geheimdienst ist in der Vergangenheit des öfteren Gegenstand literarischer und cinéastischer Werke gewesen, angefangen von John le Carré bis hin zu den eher platten Bond-Filmen. Nun hat der englische Schriftsteller Mike Herron diesem Thema eine weitere Perspektive hinzugefügt, nämlich die der Desillusionierung.

Um es gleich klarzustellen: Mike Herron ist kein ehemaliger Geheimdienstler, der nach getaner Arbeit seine Erfahrungen in Literatur oder seine Frustrationen in Enthüllungen umsetzt. Er ist studierter Literaturwissenschaftler und kennt die Hochzeit des Geheimdienstes im Kalten Krieg aufgrund seines Geburtsjahrgangs 1963 nur aus der Literatur. Das bewahrt ihn allerdings vor jeglicher Weichzeichnung oder gar Heroisierung des britischen Geheimdienstes. Er gehört zu einer Generation, die in den Institutionen des MI5 (Inlandsgeheimdienst) und MI6 (Auslandsgeheimdienst) eher anachronistische oder per definitionem verbo(r)gene und damit kaum kontrollierbare Behörden sieht.

Sein Protagonist Jackson Lamb leitet eine Einheit, die im Jargon des MI5 nur „Slow Horses“ genannt wird. Diese Bezeichnung ist als bewusste Karikatur des Dienstsitzes mitten in London gedacht, der sich „Slough House“ nennt. Der abfällige Charakter des Spitznamens ergibt sich aus der Tatsache, dass der MI5 hierhin alle Versager und Verlierer des Dienstes abgeschoben hat, die man nicht mehr braucht oder haben will und von denen man hofft, dass sie selbst kündigen, weil Entlassungen kosten- und prozessintensiv sind. Sie residieren in einem heruntergekommenen Haus ohne spezielle Ausrüstung und bearbeiten nur die „Brosamen“ der Ermittlungsaktivitäten. Dazu gehören monotone Auswertungen von Bewegungsprofilen, die man heute schon mit Software schneller und besser durchführen kann, oder Untersuchung des Hausmülls vermeintlich Verdächtiger.

Doch die Insassen von „Slough House“ sind widerstandsfähiger als gedacht, da sie einerseits keine Alternative zum Geheimdienst sehen und andererseits durchaus nicht wegen Unfähigkeit dorthin abgeschoben wurden. Hierhin schickt am einfach alle, die aus verschiedenen Gründen unangenehm aufgefallen sind. Einen disziplinarischen Grund findet man als Vorgesetzter halt immer.

Das gilt auch für River Cartwright, einen noch jungen Mitarbeiter, der angeblich eine Antiterrorübung in der Londoner U-Bahn versaut hat. Er ist sich zwar ziemlich sicher, dass dieser Fehlschlag auf falsche Informationen aus dem Hauptquartier zurückzuführen ist, doch die Chefs dort sehen das anders. Sein jetziger Chef bei den „Slow Horses“, Jackson Lamb, ist selbst ein übergewichtiger, ungepflegter Unsympath, der sich um nichts zu kümmern scheint, doch auch bei ihm bleibt lange unklar, warum er als alter und erfolgreicher Agent im Außeneinsatz ausgerechnet hier gelandet ist.

Als ein junger Pakistani von Ultra-Rechten entführt wird und spektakulär im Internet geköpft werden soll, erwacht die desparate Truppe der „Slow Horses“ aus ihrem Frustrationsschlaf. Erst ist es nur eine spontane Reaktion alter Geheimdienstler, als jedoch einige andere Ereignisse dazukommen und sich in das Puzzle einfügen lassen, erwacht der Jagdinstinkt nicht nur in Jackson Lamb, sondern auch in seiner desolaten Truppe. Dabei hilft die von oben verfügte Überwachung eines ehemals linken Journalisten, der nach einem spektakulären sozialen Abstieg mit der extremen Rechten sympathisiert. Bei der scheinbar lächerlichen Überwachung dieses Journalisten ergeben sich erst ein paar seltsame Indizien, und dann sorgt ein unerwarteter Überfall auf ihn für eine plötzliche Eskalation des ganzen Geschehens. Plötzlich befinden sich River und eine Kollegin mitten in einem Kampf auf Leben und Tod, und das Eingeständnis eben dieser Kollegin, nur zu seiner, Rivers, Überwachung zu den „Slow Horses“ versetzt worden zu sein, verleiht diesen und der Situation eine ganz andere Bedeutung.

Nun beginnt ein Wettlauf um die Befreiung des jungen Pakistani und gleichzeitig um die Aufdeckung der Hintergründe, denn Jackson Lamb ahnt schon früh, dass hier einiges nicht zueinander passt und die Entführung andererseits einigen wichtigen Leuten sehr gut ins Konzept passt. Der Leser weiß hier dank eines allwissenden Autors wieder einmal mehr als die Beteiligten „Slow Horses“ und muss darum bangen, dass auch diese rechtzeitig die wahren Hintergründe erkennen.

Natürlich gelingt es Jackson Lamb trotz großer Widerstände und Fehlinformationen, die bitterböse Intrige hinter der Entführung zu erkennen und sie der richtigen Person zuzuschreiben. Dass diese ganz oben im MI5 sitzt, ist natürlich „thriller-konform“. Jackson Lamb hat also nicht nur gegen abgedrehte Rechte zu ermitteln, sondern vor allem gegen sein eigenen Vorgesetzten. Da diese dank ihrer Position am längeren Heben sitzen, muss er sich besondere Tricks einfallen lassen, um diesen Nachteil zu kompensieren und die Schuldigen in eine unhaltbare Position zu manövrieren. Ob und wie ihm das gelingt, sollte der interessierte Leser selbst erkunden.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 472 Seiten und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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